Teil 3: Lyra

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"Lyra, ich muss mal mit dir reden."

Diese Worte hatte meine Mutter zu mir gesagt, nachdem ich ihn kennengelernt hatte. Ich erinnerte mich gut. Immerhin hatte sie nicht sonderlich oft mit mir gesprochen und selbst dann fast nie wirklich von sich aus. Es mochte nicht viel sein, nicht bedeutend wirken, aber... Ich erinnerte mich an viele kleine Dinge, weil ich nur kleine Dinge von ihr bekommen konnte.

Die handverpackten Geschenke zu meinem Geburtstag.

Ihre Hand auf meinem Kopf, wenn sie dachte, dass ich schon schlafen würde.

Die Briefe, die sie mir an Stelle meiner Tante schrieb, nachdem diese gestorben war, einfach nur damit ich das noch nicht mitbekam.

Die Pfannkuchen, die sie mir machte, wenn ich gute Noten in der Schule bekommen hatte, und die Rühreier, die sie zum Trösten nach einer schlechten Arbeit gekocht hatte.

Der Kräutertee, den sie aus den Kräutern im Garten selbst gemacht und dann mit Honig versüßt hatte, wann immer ich krank war.

Ihre Anwesenheit bei all den wichtigen Momenten in meinem Leben.

Die Angst, die ich am nächsten Tag in den Augen von denen sehen konnte, die mich geärgert oder verarscht hatten.

All das, das war meine Mutter. Keine kitschigen Kuscheltiere von Jahrmärkten oder gemeinsame Erlebnisse, keine Umarmungen oder Albereien, nicht wie bei meinem Vater. Und doch war dieser eine Satz, so kurz er auch war, das, woran ich mich am deutlichsten Erinnern konnte. Dieses eine Gespräch am Abend meines vierten Geburtstages, das sie mit mir hatte führen wollen:


"Lyra, ich muss mal mit dir reden.", sagte sie. Ich hörte auf, mit meinem Bagger zu speilen und kam zu ihr. "Warum denn Mummy? Hab ich was Böses gemacht?" Es war der einzige Grund, der mit einfiel, warum sie das so plötzlich sagen sollte und außerdem war es ja nicht so, als hätte ich jemals unernste Gespräche mit ihr geführt.

"Nein. Nein, du bist ein sehr braves Mädchen. Aber dieser Junge, der heute auf deiner Geburtstagsparty war, hat dir ein komisches Gefühl im Bauch gegeben, oder?" Lachend nickte ich. "Es kribbelt ganz doll und ich muss immer lachen, wenn er was sagt. Ich mag ihn, er ist lieb. Und er kann gut richen und er kann gut hören und er kann gut klettern. Und er riecht nach Hund. Ich mag Hunde."

Irgendwas tauchte bei diesen Worten in ihren Augen auf, das ich damals noch nicht wirklich hatte deuten können. Nun aber wusste ich, dass es eine eigene Mischung aus Sorge und Freude war.

"Hör mal, Lyra, ich denke, er ist einer deiner Gefährten. Jedes übernatürliche Wesen hat einen Gefährten, einen Seelenverwandten. Dein Vater ist mein Seelenverwandter und ich bin seine. Und es ist toll, dass du deinen Gefährten schon gefunden hast. Das ist wirklich großartig. Aber, weißt du, irgendwann bekommst du auch meine Kräfte. Dann kannst du nicht bei ihm sein, weil du dann nichts fühlen darfst. Ich denke, es wäre besser, wenn du keinen Kontakt mehr zu ihm hast.", hatte sie erklärt.

"Aber ich will, dass er uns mal besuchen kommt, und ich will auch, dass ich ihn wieder sehe, wenn er wieder zu seiner Tante Any fährt!", rief ich entsetzt. Ich verstand nicht, warum meine Mutter mir einen so guten Freund wegnehmen wollte, zumindest damals noch nicht "Tut mir leid Süße, aber das geht nicht.", flüsterte sie schuldbewusst, doch als sie die Tränen in meinen Augen sah, fuhr sie schnell fort: "Noch nicht. Ich finde einen Weg, versprochen, ja? Aber dafür musst du warten, bis ich damit fertig bin." "Nagut."

"Gut, dann geh mal wieder spielen."


Seufzend saß ich nun im alten Haus meines Vaters, das ich mitsamt den ganzen Besitztümern, die nicht im Feuer verbrannt waren, geerbt hatte. Ich wusste zwar nicht, warum Dad es nicht verkauft hatte, als wir aus Featherfield weggezogen waren, aber so hatte ich wenigstens noch einen Ort, wo ich wohnen konnte. Ein wirklich schönes haus war es auch noch, sehr hell und gemütlich.

Ich saß in einem Erker, der zur Straße hin zeigte. Dad hatte mir oft erzählt, wie meine Mutter in ihrer Schwangerschaft da gesessen und mir Kindergeschichten vorgelesen hatte. Während der Schwangerschaft waren Gefühle wohl okay, da die Kräfte in ihr gebunden waren, nur danach hatte sie die Liebe für mich oder meinen Vater nicht mehr fühlen dürfen.

Doch interessierte es mich, um ehrlich zu sein, im Moment kaum, was meine Mutter gemacht hatte. Meine Gedanken waren voll und ganz von diesem Gespräch eingenommen, das ich nun endlich verstehen konnte, und von ihm, um den es in diesem Gespräch gegangen war. Jurij, der Junge, dem mein Herz gehörte. Nur, warum war er hier? So weit ich wusste war er doch ein Mensch und Featherfield war... Naja, das hier war ein Ort, der extra für übernatürliche Wesen geschaffen worden war. Die Schutzmauer verhinderte, dass Menschen auch nur daran dachten, hier her zu kommen, weshalb wir uns hier nicht zu verstecken brauchten.

Wenn Jurij also hier war, dann bedeutete das doch, dass er kein Mensch war? Verrückt. Vermutlich hatte ich es auch mal gewusst, nur wieder vergessen, da mir sowas eigentlich nicht wichtig war. Oder aber, da wir uns in der Menschenwelt getroffen hatten, hatte er nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen wollen.

Aber was genau war er dann eigentlich? Auf jeden Fall war er jemand Wichtiges, so wie die Anderen uns vorhin angestarrt hatten. Also mindestes mal auf Platz zehn. Gute Sinne, konnte gut klettern, roch nach Hund... Ein Gestaltwandler oder ein Werwolf, vielleicht? Das Medium eines Schattenwesens hätte er ja auch sein können, aber die waren auf Rang fünfzehn, dafür hatten die Anderen zu viel Respekt vor ihm gehabt. Auch die Phönixe, welche auf Rang zwölf waren.

Plötzlich kam mir eine Idee. Wofür immerhin hatte dieser Ort seine eigene Verbindung mit dem "paranormal wide web", dem Internet für alle übernatürlichen Wesen dieses Planeten? Natürlich konnte man nicht von überall darauf zugreifen, nur von mit Magie versehen Orten. Aber schließlich war diese ganze Stadt ja ein solcher Ort.

Also machte ich mich auf dem Weg in mein Zimmer, wo ich mich an den Schreibtisch setzte und den Laptop hochfuhr. Mit zitternden Fingern tippte ich seinen vollen Namen ein, den ich heute zufällig mitbekommen hatte: Jurelnos Nox.

Jipp, ich verstand gut, warum er nicht wollte, dass irgendwer ihn bei seinem echten Namen ansprach, sondern nur bei seinem Spitznamen. Wer würde bitte mit einer so eigenartigen Buchstabenmischung angesprochen werden wollen? Klang ein wenig so, als haben seine Eltern wahllos Buchstaben aneinander gereiht und drauf gehofft, dass man es würde aussprechen können... Ich schüttelte den Kopf, um mich wieder zu konzentrieren, und drückte seufzend auf "suchen", schloss dann aber wieder meine Augen aus Angst davor, was ich wohl sehen würde.

Verdammt, so hatte das doch keinen Sinn! Mach es ganz, Lyra, sonst kannst du's auch gleich lassen!

Ich atmete die angestaute Luft raus und drückte einfach auf den ersten Link, der mir angezeigt wurde. Nun hieß es: Finger kreuzen und hoffen. Hoffentlich hatte er sich in den letzten Jahren nicht in ein riesigen Arsch verwandelt, hoffentlich fand ich nichts Schlimmes über ihn raus. Auf der anderen Seite, wenn er ein Arsch war, würde ich ihn vielleicht nicht mehr mögen, das wäre doch gut oder?

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Die Dämonenspiele der DolchherzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt