In den nächsten Wochen kam Jurij nicht mehr zur Schule. Es tat ziemlich weh, ihn wieder nicht sehen zu können. Aber vermutlich war es so auch besser, denn immerhin brachte ich ihn nur in Gefahr mit meinen Gefühlen für ihn.
In der Schule lenkte Rem mich ab, wir redeten und alberten rum, standen uns schnell auch sehr nahe. Es dauerte nicht lange, da war ich mich auch schon sicher, dass ich ihm mein Leben anvertrauen würde, ohne zu zögern. Ich hatte auch das Gefühl, dass es ihm nicht anders ging.
Er hatte jedoch irgendwas auf dem Herzen, das merkte ich, und es wurde immer schlimmer. Ich wollte ihn nicht bedrängen, also machte ich nur Andeutungen, fragte ihn nicht direkt. Wenn er bereit wäre, mit mir darüber zu reden, würde er das schon tun. Hoffte ich zumindest.
Schwer waren die Wochenenden und die Zeit nach der Schule, wenn ich wieder alleine war, in dem Haus meines Vater, das nun noch größer und noch leerer wirkte, als zuvor. Ich versuchte, meine Einsamkeit mit Schokolade zu betäuben, aber das half nur sehr kurz und nachdem ich davon ordentlich zugenommen hatte, beschloss ich, dass es das nicht wert wäre. Ich wollte immerhin nicht dick werden, nur weil ich ein bisschen Liebeskummer hatte. Liebeskummer wegen einer meiner Gefährten.
Was er jetzt wohl tat, wie es ihm wohl ging, ob er mich wohl auch vermisste...?
Doch solche Gedanken musste ich immer genauso schnell verdrängen, wie sie gekommen waren. Es ging einfach nicht anders. Egal, wie sehr ich es wollte. Wir waren hier nunmal nicht bei wünsch-dir-was, sondern im echten Leben. Leider.
Die Zeit verging und langsam brach der Herbst herein. Die ersten Stürme kamen auf und das Laub färbte sich allmählich in wunderschönes Rot und Orange, doch ab und zu auch Braun oder Gelb, was etwas eigenartig aussah. In meiner alten Heimat hatte es nicht so viele Bäume gegeben, nur ein paar Tannen und ab und an auch mal Büsche oder Zierbäume, wie etwa Magnolien. Die Meisten jedoch hatten nur ein paar Blumen und etwas Gras gehabt, wie wir auch.
Platz war in den großen Städten halt sehr teuer, besonders in Vierteln, in denen hauptsächlich Einfamilienhäuser standen. Featherfield jedoch war eine große Stadt mit sehr wenigen Einwohnern, sodass fast jeder hier ein eigenes Haus mit großem Garten hatte und es trotzdem noch unzählige Waldgebiete gab. Daher war es das erste Mal, dass ich die Schönheit von Laub sah, wenn es den ganzen Wald färbte.
Als ich Rem davon erzählte, lachte er nur. "Wirklich? Hier sieht man das jedes Jahr.", meinte er und verschränkte die Arme vor der Brust, um sich vor der Kälte des Windes zu schützen. Dann schien ihm etwas einzufallen, denn er blieb mit einem leisen "Oh" plötzlich stehen. Ich tat es ihm gleich, drehte mich zu ihm um und zog fragend eine Augenbraue hoch. Er jedoch lächelte nur aufgeregt. "Geh schonmal vor, Lyra. Ich hab was vergessen, bin gleich wieder da." Und damit war er dann auch schon wieder weg.
Ich sah ihm verwirrt nach. Warum war es denn bitte so aufregend, etwas vergessen zu haben? Der verheimlichte mir doch etwas. Aber da er glücklich schien, zuckte ich nur mit den Schultern und ging schonmal zum Unterricht. Wie immer begleiteten mich auf dem Weg die Blicke und das Getuschel der Leute um mich herum. Nun, da ich mich daran gewöhnt hatte, machte es mir kaum noch etwas aus, es war nur noch nervig. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn sie es nicht tun würden...
Seufzend setzte ich mich auf meinen Platz. Ich konnte eh nichts machen, also sollte ich mir auch nicht den Kopf darüber zerbrechen. Das wusste ich und doch war es mir einfach nicht möglich, es auszublenden, selbst wenn ich ganz gut darin geworden war, eben das vorzutäuschen.
Plötzlich drang ein Lachen an mein Ohr, das mir irgendwie bekannt vorkam und doch konnte ich es nicht zuordnen. Ich fokussierte mich auf diese Stimme, in der Hoffnung, dass ich dann darauf kommen würde. Natürlich wusste ich, dass ich an sich nicht lauschen sollte, immerhin wollte ich ja auch nicht belauscht werden, aber es fuchste mich einfach, dass ich es nicht wusste.
Ich stutzte. Hatte ich das jetzt wirklich gedacht? Wow, das war ja mal ein wirklich schlechter Witz gewesen. Eine Füchsin, die etwas fuchste, also wirklich... Trotzdem musste ich lächeln, auch wenn es dumm war.
"Ach, komm schon, jetzt lach doch nicht! Es ist wahr.", protestierte jemand in der Nähe desjenigen, der gelacht hatte, wodurch meine Aufmerksamkeit wieder darauf gelenkt wurde.
"Also, ich weiß ja nicht... Bist du dir sicher?", fragte die Stimme, die gelacht hatte. Verdammt, ich wusste doch ganz genau, dass ich seine Stimme kannte, und ihre genauso! Warum kam ich denn bloß nicht drauf?
"Ja. Es ist so, ehrlich. Ich schwör's! Eine Werkatze kann keine echte Milch ab, weil eine Katze es auch nicht kann.
"Na, wenn du das sagst, Mini..." Moment mal! Mini?!
"Mientje?", rief ich überrascht, war auch sofort wieder aufgestanden und aus dem Klassenzimmer raus. Ein eher schwächlich aussehendes Mädchen, das mehr an eine Gazelle, als an eine Wildkatze erinnerte, drehte sich zu mir um, ebenso der größere und viel bedrohlicher wirkende Junge neben ihr. Ihre himmelblauen Augen zeigten erst Verwirrung, dann Schock. Ihr fielen sogar die Bücher runter, die sie im Arm gehabt hatte.
"L-L-Lyra.", stotterte sie, noch immer geschockt und scheinbar auch ein wenig verängstigt. Warum denn das? Lächelnd kam ich auf sie zu, was ihr noch mehr Angst zu machen schien. "Was hast du denn?", fragte ich und hob, noch immer lächelnd, ihre Bücher auf, um ihr diese zu reichen. Unsicher erwiderte sie das Lächeln und nahm die Sachen an, doch mir entging nicht, dass ihre Hand dabei zitterte. Sie erwiderte nichts auf meine Frage, doch der Junge neben ihr sah mich skeptisch an, als wolle er abschätzen, welches Maß an Gefahr von mir ausging.
"Hallo, Cajetan.", begrüßte ich nun auch ihn. Er nickte mir nur zu. Cajetan war ihr jüngerer Bruder, auch wenn man das nie erraten würde.
Nachdem klar war, dass sie mir nicht antworten wollten, fuhr ich fort: "Es ist schön, euch mal wieder zu sehen, nach all der Zeit. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr hier seit, hätte ich mich schon längst bei euch gemeldet." Noch immer keine Antwort. "Wie geht es euch denn so? Ich hab schon so lange nichts mehr von euch gehört."
"G-Ganz gut.", murmelte Mientje, Cajetan murmelte auch irgendwas, wobei er sie vorsichtig und möglichst unauffällig hinter sich schob.
"Sagt mal, habt ihr etwa Angst vor mir?", fragte ich sie nochmal, doch Mientje schüttelte nur den Kopf - sehr, sehr panisch. Als habe sie Angst, dass es mir nicht gefallen würde, dass sie Angst hatte. Komisch, wirklich komisch. "Gut, denn das braucht ihr auch nicht. Immerhin sind wir ja alte Freunde, oder nicht?", stellte ich klar, woraufhin Cajetan wieder irgendwas unverständliches murmelte. "J-Ja, g-genau. W-Wie er e-eben s-s-sagte.", pflichtete sie ihm stotternd bei.
Ich wollte grade nochmal versuchen, den Grund für ihre Panik herauszubekommen, da begann sie auch schon, vorsichtig weg zu gehen. "A-Also, es w-war j-ja sch-schön, d-d-d-d-dich m-mal wieder z-zu s-sehen.", stotterte sie dabei, "A-Aber l-leider m-m-müssen w-wir d-dann auch z-zum U-Unterricht. V-Von daher..." Sie lachte nervös und im nächsten Moment rannte sie auch schon fluchtartig weg, ihren Bruder hinter sich herziehend.
"Meldet euch doch mal wieder.", rief ich ihnen noch hinterher, doch sie antworteten nicht. Ja, hätte ich bei diesem Verhalten auch nicht erwartet. Was hatten sie den plötzlich bloß? Verrückt...
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Die Dämonenspiele der Dolchherzen
FantasyLyra ist neu in Featherfield, einer Stadt nur für nicht-Menschen. Davor hat sie in der Welt der Menschen gelebt, hat sich wie ein Mensch verhalten, hat so getan, als sei sie ein Mensch. Eine schwere Aufgabe, wenn man Fuchsohren auf dem Kopf hat... ...