Teil 42: Lyra

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Das war also das Viertel, in dem Rems Sippe lebte. Man sah sehr gut, dass es von Hexen und Hexern bewohnt wurde. Die Häuser waren klein und einfach gehalten, zudem meist aus natürlichen Materialien wie Lehm oder Holz. Andere waren aus Stein und wieder andere hatten Strohdächer. Die Häuser hier sahen eher wie Hütten aus, solche wie auf den Bergen oder in Wäldern anzutreffen waren. Was das anging hatten die Märchen gar nicht mal so unrecht. Magie war immerhin sehr stark mit der Natur verbunden, also fühlten sich magische Wesen von Natur umgeben auch am wohlsten. Wo man seine Stärke am besten herholen konnte, war man eben am liebsten, das ging fast allen so.

Aber selbstverständlich gab es auch hier ein paar Ausnahmen. Etwa waren Schattenmagier nicht gerne in der Dunkelheit. Sie hielten sich hauptsächlich an lichtdurchfluteten Orten auf, da sie sonst schnell die Kontrolle über ihre Fähigkeiten verloren. Schattenmagie war nunmal einfach sehr mächtig. An sich waren sie sogar weitaus mächtiger als Drachen, nur waren sie wegen der labilen Kontrolle nicht sonderlich weit oben in der Rangfolge der Arten. Schon komisch, wie unfair unser System war...

Und ich war schon wieder so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass ich kaum bemerkt hatte, dass ich bereits beim Sippengebäude angekommen war. Es war das einzige neumodische Gebäude und daher recht leicht zu erkennen. Naja, was hieß hier "neumodisch"? Es hätte mit seinen vielen Verzierungen und den hohen Fenstern ebenso gut in einer Landschaft von vor etwas über zweihundert Jahren gepasst.

Seufzend schloss ich die Augen, um mich zu sammeln. Aja war nicht mitgekommen, da ich unbedingt allein hatte kommen wollen. Nun aber machte ich mir langsam Gedanken darüber, ob das tatsächlich so eine gute Idee gewesen war...? Ich war schon ziemlich nervös. Sicher, ich besuchte nur kurz meinen Gefährten, da war wirklich nichts Ungewöhnliches dabei. Das Problem war nur, dass Rems Vater der Sippenleiter und somit - sowohl diplomatisch als auch politisch - eine wirklich wichtige Person war. Ich wollte einen guten Eindruck machen, aber nicht nur deshalb sondern auch weil es eben Rems Vater war.

Ein eigenartiges Kribbeln im Nacken veranlasste mich plötzlich dazu, meine Augen wieder zu öffnen. Ich kannte dieses Kribbeln nur allzu gut, fast jeder tat das. Es handelte sich um das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. Und tatsächlich: Da stand ein Kind in einem Vorgarten, halb versteckt hinter einem Baum, das mich verholen ansah. Nun bemerkte ich außerdem auch, dass das Kind nicht die einzige Person war, die das tat. Die Anderen schienen einfach nur ihren Blick mit Magie vor mir versteckt zu haben, doch wenige waren es nicht.

Kein Wunder, immerhin blieben die Arten an sich schon in den eigenen Wohnorten oder gingen zumindest nicht wirklich oft in die Gebiete der anderen Arten. Natürlich war es nicht verboten oder so, es passierte einfach nur nicht. Darüber hätte ich man nachdenken sollen, bevor ich hier her gekommen bin. Obwohl... Es hätte vermutlich nichts an meiner Entscheidung geändert, also egal. Dann werde ich halt angestarrt. Auch gut. Ist ja nicht so, als wäre das neu.

Ich seufzte ergeben, bevor ich dem Kind ein freundliches Lächeln schenkte und dann die Stufen zum Eingang des Sippengebäudes hochstieg. Ich benutzte den Klopfer aus Messing, dessen Form an einen Schlüssel erinnerte. Wohl der Schlüssel der griechischen Göttin Hekate, wenn ich mich jetzt nicht total irrte. Sinn würde es zumindest machen, war Hekate unter Anderem doch die Göttin der Magie, Geister und der Beschwörungen.

Lange musste ich nicht warten, bevor die Tür geöffnet wurde. Erleichtert stellte ich fest, dass es nicht Rems Vater war. Vielleicht würde ich ihm heute ja auch gar nicht begegnen? Schön wäre es schon, wenn sich unsere Begegnung noch etwas hinauszögern ließe... Ich lächelte das Mädchen an, das mir die Tür geöffnet hatte. Sie hatte recht starke Ähnlichkeit mit Rem, wie ich nun bemerkte. Die gleiche Haarfarbe, die gleiche Nase und auch ähnliche Gesichtsknochen. Ob sie wohl mit Rem verwandt ist? Vermutlich. Sollte ich mal fragen...?

Doch wie sich herausstellte, war diese Überlegung vollkommen überflüssig. Denn sie reichte mir auch schon ihre Hand und begrüßte mich: "Hallo. Ich bin Sue, Rems Schwester. Du bist dann wohl seine Vertraute, nehme ich an?" Ich nickte, als ich ihre Hand ergriff. "Lyra McHeart, freut mich. Äm... Wo ist Rem denn?" Sie nickte ebenfalls, trat dann beiseite und deutete mir, ihr zu folgen. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich etwas genauer umzusehen. Ich war noch nie in einem Sippengebäude gewesen. Ob wohl alle so kunstvoll dekoriert wie dieses waren? Wohlmöglich, immerhin war es eine Art Statussymbol für die jeweilige Sippe, was ich so gehört hatte.

Mein Blick schweifte von dem Marmorboden über die mit bunten Mosaiken verzierten Wände, rüber zu den Lichtspielen, die durch die Anordnung der Fenster geschaffen wurde. Wirklich beeindruckend. Und so viel größer, als es von Außen den Anschein hatte. Es war wirklich beeindruckend. Besonders, wie die Decke aus scheinbar verzaubertem Spiegelglas mehrfach genutzt wurde. Zum einen für besagte Lichtspiele, zum anderen auch zur optischen Vergrößerung des Raumes und außerdem um die Auren sichtbar zu machen. Meine war golden, wie der Himmel bei Sonnenaufgang, durchzogen von blutroten und schwarzen Flecken, die jedoch nicht wie Verunreinigungen aussahen. Viel mehr hatten sie den Anschein, das Ganze von der Perfektion und Leere wegstoßen zu wollen. Passt zu mir. Golden wie mein Vater, rot und schwarz wie meine Mutter. Es ist hübsch. Irgendwie...

"Wir haben ihn im Kellerbereich der Bücherei eingesperrt. Es war keine Zeit, ihn zu den Katakomben zu schaffen, sonst hätte er womöglich noch jemanden umgebracht. Obwohl ich ja bezweifle, dass er das geschafft hätte...", erklärte mir Sue grade. Sie hatte die ganze Zeit über geredet, doch ich hatte nur halb zugehört. Zu eingenommen war ich von der Pracht des Gebäudes gewesen. Doch diese Worte zogen meine Aufmerksamkeit wieder auf sie. "Wie meinst du das denn genau?", fragte ich mit gerunzelter Stirn nach.

"Hm? Oh, naja, er ist nicht sonderlich stark, wie du sicher weißt. Für Keinen hier wäre er eine wirkliche Bedrohung. Um ehrlich zu sein waren wir alle sehr überrascht, als er uns erzählt hat, dass er eine Vertraute hat."

"Und warum das?"

"Na, weil Vertraute nunmal eine ähnliche mentale, physische oder magische Stärke haben müssen. Rem hat kaum irgendetwas davon. Dass er dann auch noch dich, also jemand so starken, abbekommen hat, das ist wirklich verrückt. Naja, vermutlich ein Fehler vom Universum, aber es ist ja auch ganz gut so..."

Ich entgegnete nichts darauf. Das konnte ich auch gar nicht. War sie nicht seine Schwester? Da sollte sie doch nicht so schlecht von ihm reden! Und vor allem sollte es ihr wenigstens auffallen, dass sie es tat. Tolle Schwester! Wenn der Rest der Familie auch so ist, würde ich sicher auch Amok laufen wollen, Meuchelmasern hin oder her.

Plötzlich blieb Sue stehen. Fast wäre ich in sie hinein gerannt, konnte im letzten Moment aber noch bremsen. "So, da wären wir. Ich lasse dich dann mal mit ihm allein. Du darfst die Tür nicht öffnen, egal was passiert. Solange er dich nicht sieht, sollte es eigentlich keine Probleme geben. Wenn doch, dann renn schnell die Treppe hoch und hol jemanden." Und mit diesen Worten war sie dann innerhalb eines Wimpernschlags weg. Anerkennend pfiff ich durch die Zähne. Teleportation, nicht schlecht für jemanden in ihrem Alter.

Ich drehte mich wieder um, wo ich eine schwere Holztür sah, die verriegelt zu sein schien. Vorsichtig klopfte ich an. "Rem?" Es blieb zunächst still. Ich dachte schon, dass er schlafen würde oder so, und wollte gehen. Doch da ertönte von der anderen Seite eine überraschte und etwas heisere Stimme: "Lyra? Bist du das?"

Die Dämonenspiele der DolchherzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt