Schon vom Weiten konnte ich die aufgebrachte Stimme Lyras hören: "Was zum... Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?! Um Himmel Willen, das... das..."
Verwirrt und besorgt legte ich die Stirn in Falten. Was wohl lossein könnte? Ich überlegte, ob ich vielleicht lieber warten sollte, bis Lyra mit dem Gespräch fertig war. Es schien wichtig zu sein. Aber andererseits war es wirklich nicht leicht, sie in dem Wissen allein zu lassen, dass sie beunruhigt war. Also gab ich meiner eher unhöflichen Seite nach und betätigte die Klingel. Wenig später stand Lyra dann auch schon vor mir, in ihrem Gesicht war noch immer der Schock zu sehen. "Oh. Hallo, Aja. Ist es schon so spät?", fragte sie völlig monoton und neben der Spur.
Wer oder was könnte meine Meisterin nur so aus der Bahn geworfen haben, fragte ich mich? Die Antwort kam auch schon recht schnell, denn ein hochgewachsener Mann mit pechschwarzem Haar stand plötzlich hinter ihr. Lyra, die meinem Blick gefolgt war und so ebenfalls die Anwesenheit des Mannes bemerkte, lächelte schwach. "Mister Elay, das ist meine Gefährtin Aja. Aja, das ist Mister Elay, von der Behörde für politische Angelegenheiten.", machte sie uns miteinander vertraut.
Nachdem ich aus Höflichkeit die Hand des Mannes geschüttelt hatte, wand er sich wieder meiner Meisterin zu: "Jedenfalls solltet Ihr heute Abend noch einmal zu uns kommen, damit wir das besprechen können. Ich werde dann gehen. Wenn Ihr mich entschuldigen wollt, Hoheit? Miss Aja." Er nickte mir einmal zu, dann schob er sich an uns vorbei und ging seines Weges. Noch verwunderter als zuvor sah ich ihm nach. Was zum...?
Lyra riss mich aus meinen Gedanken, als sie zu sprechen begann. "Mister Elay kümmert sich um meine Ernennung zur Regentin hier. Mein Vater war der König, aber jetzt ist er tot, also muss ich allein aus Prinzip zumindest zur Schau auf den Thron.", erklärte sie mit einem abwesenden Blick in die Ferne. "Aber i-ich... Ich soll... Die Krönung ist schon morgen! E-Er sagte, es könne nicht länger verschoben werden, sonst könnte Featherfield in eine Krise stürzen. I-Ich denke, ich verstehe es, aber... Aber morgen?", stammelte sie weiter. Mitleidig sah ich sie an, als ich mich neben sie auf die Stufen setzte, auf denen sie sich sofort nach Mister Elays Abgang niedergelassen hatte.
"Morgen? Und das haben die entschieden? Einfach so?", fragte ich. Lyra nickte gedankenverloren. "Einfach so..."
Wir saßen noch eine Weile dort, einfach schweigend. Ich hätte sie gerne umarmt, um sie zu beruhigen, aber irgendwie schien es mir falsch. Immerhin war sie doch meine Meisterin, der zu dienen ich an sich unwürdig war. Dass ich sie umarmte war einfach... Es war falsch. Ganz einfach nur falsch, mehr konnte dazu nicht gesagt werden.
Aus unserem Schweigen gerissen wurden wir dann schließlich, als Lyra auf die Uhr in ihrem Flur sah. Scharf zog sie die Luft ein. "Verdammt!", murmelte sie und schnappte ihre Tasche. In ein paar Sekunden hatte sie eine Jacke angezogen, das Licht gelöscht und die Haustür abgesperrt. "Der Unterricht hat vor einer Minute angefangen!", erklärte sie mir, als sie mich hektisch aus dem Vorgarten und Richtung Schule zerrte. Mit ihrer tierischen Geschwindigkeit und Ausdauer konnte ich nicht mithalten, weshalb ich keuchend hinter ihr her stolperte und mich wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlte... Was ich genau genommen ja auch war.
Auf dem Schulhof trennten wir uns hastig. Lyra rief mich nochmal eine Entschuldigung dafür, dass ich ihretwegen zu spät gekommen war, über die Schulter hinweg zu, dann war sie verschwunden. Ich bemühte mich, erstmal wieder zu Atem zu kommen. Dieser Sprint war wirklich unmenschlich gewesen. Seufzend machte ich mich auf zu der nächsten Unterrichtsstunde. Hätte ich Lyra sagen sollen, dass ich erst zur Zweiten hier sein musste? Vermutlich, dann hätte sie zumindest kein schlechtes Gewissen mehr gehabt. Andererseits hätte sie mich sich dann vermutlich auch nicht abholen lassen. Das war es mir wert, beschloss ich und kam in dem Moment auch pünktlich im Unterrichtsraum an.
Der Unterricht verging schnell und ohne dass ich das Stundenthema überhaupt mitbekam. Verdammt, ich hatte sogar schon wenige Sekunden nach dem Klingeln vergessen, was für ein Fach es überhaupt gewesen war! So ging es mir jedes Mal, wenn wir... dieses Fach, was es nun auch immer war, hatten. Vor der Arbeit grauste mir jetzt schon. Andererseits war es mir dann auch wieder völlig egal. Ich war eine Kriegerin. Wenn meine Familie nicht darauf bestanden hätte, wäre ich schon längst aus der Schule raus gegangen. All das hier war nun unwichtig. Wichtig war doch nur, dass ich trainierte und meiner Meisterin irgendwie nützlich sein konnte. Meiner unglaublichen, starken, wunderbaren Meisterin.
Ich war ein Werkzeug, das wusste ich. Dafür war ich geboren worden. Das war meine Daseinsberechtigung. Niemand in meiner Nähe konnte das verstehen, aber wie sollten auch? Das Meervolk hatte es gut verborgen, jenes Geheimnis. So gut, dass sogar das Meervolk selbst es größtenteils vergessen hatte. Aber nicht ich. Mein Vater - also, mein leiblicher Vater, nicht Dad Nummer zwei - hatte es mir mal gesagt. Ich wusste also um jenes Geheimnis. Ja, ich wusste, was wir wirklich waren.
Wenn ich es der Meisterin sagen würde, was würde sie dann denken?, fragte ich mich selbst, während ich mir einen Platz auf dem Schulhof suchte, schnaubte danach jedoch gleich abfällig über meinen eigenen Gedanken. Ja, was wohl? Es war ziemlich klar, was sie dann denken würde. Sie wäre sicher angeekelt von mir. Und wenn nicht von mir, dann eben von jenen, die das zu verantworten hatten. Denn wenn man es mal ganz neutral betrachtete, war es ein Fehler gewesen, der unsere Existenz überhaupt möglich gemacht hatte, ergo waren auch wir nichts weiter als Fehler. Die Krieger unter uns waren dazu bestimmt, zu dienen. Dementsprechend war ich nur ein dienender Fehler.
Zugegeben, die Meisterin schien mir nicht eine Person zu sein, die sowas einfach hinnehmen würde. Das änderte jedoch nichts am Stand der Tatsachen. Sogar Lyra würde es irgendwann einsehen müssen, wenn ich es ihr erzählte. Falls ich es ihr erzähle. Wenn ich einfach den Mund halte, wird es sowieso nie dazu kommen. Der Gedanke beruhigte mich etwas, auch wen es sich falsch anfühlte. Ich konnte es meiner Meisterin doch nicht einfach so verschweigen, wo es doch so etwas Wichtiges über mich war...
Zumindest nicht für immer. Vorerst wäre es okay, oder nicht? Ich war ihr Eigentum, ob sie es nun wusste oder nicht. Da brauchte ich auch nicht unbedingt sofort mit der Tür ins Haus fallen. Genau, ich würde sie erstmal nicht damit belästigen. Und wenn sich der ganze Sturm um sie herum etwas gelegt hatte, würde ich einen passenden Moment abwarten, um es ihr zu sagen. "Aja, da bist du ja! Wir haben dich schon gesucht. Du kannst dich ziemlich gut verstecken, weißt du?" Die Worte meiner Meisterin rissen mich urplötzlich aus den Gedanken. Ich sah überrascht auf und bemerkte jetzt erst, dass Lyra flankiert von meinen Brüdern vor mir stand.
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Die Dämonenspiele der Dolchherzen
FantasyLyra ist neu in Featherfield, einer Stadt nur für nicht-Menschen. Davor hat sie in der Welt der Menschen gelebt, hat sich wie ein Mensch verhalten, hat so getan, als sei sie ein Mensch. Eine schwere Aufgabe, wenn man Fuchsohren auf dem Kopf hat... ...