Teil 21: Jurij

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Einundsechzig Tage. Das waren 1464 Stunden, oder anders etwas mehr als achteinhalb Wochen. Achteinhalb Wochen...

War es wirklich erst so kurz?

War es wirklich schon so lang?

Seit ich nicht mehr in die Schule gegangen war, waren die Stunden ineinander verschwommen, alles war gleichgültig geworden. Am Nachmittag brachte Alice mir die Aufgaben aus der Schule, am Abend ging ich schlafen, am Morgen stand ich wieder auf und dann ging das Ganze von vorn los. Aber es war alles bedeutungslos. Ich verlor mich allmählich selbst, das konnte ich fühlen.

Doch worin bestand der Sinn, das zu verhindern? Ich hatte gedacht, ich könnte es, ich könnte mich von ihr fern halten. Aber das war falsch gewesen. Ich hielt es nicht aus. Alles in mir schrie danach, zurück zu gehen. Zu ihr zu gehen.

Ich wusste, wo sie wohnte. Es war nicht weit von hier. Auf der anderen Seite des Waldes stand ihr Haus, also ganz nahe. Ich hätte zu Fuß dorthin gehen können, wenn ich es versucht hätte.

Und das war alles, woran ich denken konnte, wenn ich mich nicht irgendwie beschäftigte.

Seufzend sah ich auf meinen Schreibtisch. Die Aufgaben von gestern waren alle erledigt. Ich hatte sogar schon etwas vorgearbeitet, hatte die Literatur für Deutsch schon beendet.

Mein Blick glitt weiter durch den Raum. Er blieb schließlich an meinen Büchern kleben, hauptsächlich Krimis und auch ein paar Thriller. Ich hatte sie in der Zeit, die ich hier verbrachte, alle schon mindestens zwei Mal durchgelesen. Es war keine Kunst, immerhin las ich für gewöhnlich nicht viel, also hatte ich auch nur insgesamt fünf Bücher und die waren nichtmal sonderlich dick.

Auf einem Schrank lag mein Nintendo und die Spiele, die dazu gehörte. Alle beendet. Das lenkte mich auch nicht länger ab.

Erneut seufzend setze ich mich auf, ich musste irgendwas tun, irgendwas halt. Die Decke schien mir langsam auf den Kopf zu fallen. Ich hielt es einfach nicht länger aus, so in meinem Zimmer eingesperrt zu sein.

Ich wollte hier raus! Das wollte ich schon die ganze Zeit, doch ich hatte mich selbst eingesperrt. Nur zur Sicherheit. Ich war immerhin nur hier, um Abstand zu gewinnen. Sollte ich bei ihr sein, bei meiner Gefährtin, bei der wunderschönen Lyra, dann würde ich verrückt werden. Ich würde mit der Verzweiflung darüber, dass sie mich nicht wollte, nicht fertig werden.

Wie in Trance stand ich auf, zog Schuhe und Jacke an und verließ das Haus. Ich musste rennen, musste mich bewegen. Wenn mein Körper erschöpft war, dann war ich zu müde, um mir über sie Gedanken zu machen. Hoffte ich.

Oder zumindest wäre ich mal wieder frei, kam weg von der Verzweiflung, tat einfach mal etwas. Die Freiheit des Waldes und der Bewegung hatten mir schon immer geholfen, mich zu entspannen.

Also betrat ich den  Wald, wo ich mich auch sofort verwandelte. Meine Gelenke knackten dabei ganz schön. So, wie es Gelenkte immer taten, wenn man sich nach langer Zeit wieder bewegte. Ich schluckte. Offenbar hatte ich mich schon länger nicht mehr verwandelt, als mir bewusst gewesen war.

Dieser Liebeskummer kostete mich nachher noch nicht nur meinen Verstand, sondern auch mein Leben, wenn ich es nicht endlich in den Griff bekam. Und zwar in absehbarer Zukunft.

Nachdem ich mich verwandelt hatte, trabte ich durch den Wald. Zuerst wollte ich es nur ganz langsam angehen, um meinen Körper wieder an die Bewegung zu gewöhnen. Doch bald schon nahmen meine Bewegungen an Geschwindigkeit zu, immer mehr, bis ich schließlich rannte. Dabei achtete ich kaum noch darauf, wohin ich eigentlich rannte. Ich rannte einfach nur, wechselte die Richtung von Zeit zu Zeit, um nicht gegen einen Baum oder so zu rennen.

Meine Gedanken und Gefühle fuhren währenddessen Achterbahn. Warum war sie so anders als damals?

Links.

Es war ja nicht so, als wäre sie nun weniger wundervoll, aber trotzdem. Da war etwas in ihren Augen... Ja, etwas war passiert und das hatte sie verändert.

Rechts.

Hatte diese Veränderung wohl etwas damit zu tun, dass sie mich nun so von sich stieß? Oder war es wirklich so, wie sie sagte, und sie wollte einfach nichts mit mir zu tun haben? Sie hatte gesagt, dass es auch der Grund dafür gewesen war, dass sie damals den Kontakt abgebrochen hatte, nachdem ich von dem Besuch bei meiner Tante zurück gefahren war. Stimmte das tatsächlich?

Nochmal rechts, dann links.

Sie hatte mich einen "Schoßhund" genannt. Lag es also daran, dass ich ein Werwolf war? Dass sie keine Werwölfe mochte? Nein, dann wären wir von Anfang an nie Freunde gewesen. Nein, das war nicht der Grund. Es war etwas Anderes. Nur was?

Links.

Egal. Ganz egal. Ich sollte nicht darüber nachdenken. Ich wollte sie doch vergessen, verdammt! Vielleicht ja, wenn ich etwas jagen würde? Aber dazu müsste ich anhalten, darauf hatte ich keine Lust. Grade war ich so schön in Fahrt.

Rechts, mit einem Sprung über den Fluss rüber.

Außerdem war das nicht unser Wald, das durfte ich nicht vergessen. Elfen lebten sehr nahe mit der Natur verbunden. Für sie war es ein Verbrechen, ohne Not zu töten. Ich wollte sie nicht verärgern und auf ihrem Gebiet gegen ihre Moral zu verstoßen, würde mir ohnehin im Traum nicht einfallen!

Am Waldrand links und wieder tiefer in den Wald hinein.

Hier roch es immer so gut. Nach Laub und nach nassem Holz. Im Moment war der Geruch besonders stark. Hatte es vor kurzem geregnet? Ich hatte es gar nicht mitbekommen...

Über einen Baumstamm rüber.

Jetzt merkte ich auch, dass meine Pfoten klitschnass waren. Die Erdklumpen und der Matsch im Fell waren aber gar nicht mal so unangenehm. Es hatte mir ziemlich gefehlt, wenn ich mal ehrlich war. Die kalte Luft, die Spuren im Matsch, die tierischen Gerüche... Ich wusste schon, warum wir Wölfe für gewöhnlich in Wäldern lebten.

Erneut nach links.

Langsam ging mir die Puste aus. Wie lange rannte ich denn jetzt schon? Ich war eigentlich ein sehr ausdauernder Wolf.

Oh, ja. Die Sonne war schon ein ganzes Stück gesunken. Vermutlich sollte ich bald zurück und duschen? Vater würde sauer werden, wenn ich nicht zum Mittagessen wieder zurück war. Naja, er würde es vermutlich verstehen. Es war immerhin nicht so, als wäre es das erste Mal, dass ich das Essen verpasste.

Solange ich meinen Wolf ausleben würde, würde ich auf mein Herz hören und das sei das Beste, was ein Alpha für sein Rudel tun könne, hatte er nur dazu gesagt. In der Beziehung war er schon ein ziemlich toller Vater. Wie auch sonst in allen wirklich wichtigen Dingen.

Ich musste lächeln. Ja, ich hatte wirklich Glück was Dad anging, auch wenn er einem ziemlich viel Angst machen konnte. Andererseits war das als Alpha vermutlich auch notwendig. Vor mir hatten sie ja auch schon Angst.

Nachdem ich wirklich nicht länger laufen konnte, hielt ich hechelnd an. Dass wir nicht schwitzen konnten, wenn wir in unserer Wolfsform waren, nervte wirklich...

Dann erst sah ich mich um. Wo war ich denn hier?

Diesen See kannte ich gar nicht...

Die Dämonenspiele der DolchherzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt