Mit einem langen Seufzer starrte ich an die Decke. Krank sein war langweilig...
Was Lyra wohl grade so machte? Sicher vermisste sie mich nicht. Egal was sie sagte, am Ende war ich ihr doch nicht so wichtig. Das konnte ich nicht sein. Mein ganzes Leben lang hatten alle, sogar der Großteil meiner eigenen Sippe, auf mich heruntergeschaut. Meine Eltern und meine Schwester zeigten es nicht, aber irgendwo tief drin dachten sie sicher auch so. Ich konnte doch nichts. Ich war keine Hilfe, bei nichts.
Bjarte und seine Kumpanen hatten Recht: Ich war wirklich mehr Mensch, als Hexer. Vermutlich hätte ich Featherfield nichtmal betreten können, wenn ich nicht hier geboren wäre. Die Barriere hätte genauso auf mich gewirkt, wie auf jeden x-beliebigen Menschen...
"Du bist ein viel besserer Hexer, als du denkst, wenn du mich fragst. Und der beste Freund, den ich jemals hatte, bist du auch!"
Allein die Erinnerung an ihre Worte brachten mich zum schmunzeln. Hatte sie das wohl wirklich ernst gemeint? Oder hatte sie es gesagt, weil sie dachte, dass ich es hören wollte? Nein, so jemand schien sie mir nicht zu sein. Sie würde sich für Niemanden verstellen.
Naja, von ihrem einen Geheimnis mal abgesehen.
Trotzdem glaubte ich nicht, dass sie wusste, wie viel mir diese Worte wirklich bedeuteten. Ob sie mich wohl auch als Freund akzeptiert hätte, wenn ich nicht ihr Gefährte wäre? Manchmal konnte ich es fast glauben, aber...
Aber dann tauchten all die enttäuschten Gesichter wieder vor meinem inneren Auge auf. Die geschrienen Worte meiner Tante, das gehässige Grinsen meines Cousins, das resignierte Seufzen meines Vaters, das ärgerliche Schnalzen meiner Mutter, das mitleidige Lächeln meiner Schwester, das Kopfschütteln meiner Lehrer, das spöttische Lachen meiner Schulkameraden... Überall um mich herum sah ich nur die Erinnerungen daran, wie schlecht ich war. Immer und immer wieder, so lange ich denken konnte.
Und dann war da Lyra. Sie brachte mich zum Lächeln und setzte sich für mich ein. Sie gab mir Hoffnung und, ja, auch ein wenig von meiner längst verlorenen Entschlossenheit. Aber konnte ich wirklich so für sie da sein, wie sie für mich? Oder war ich letzen Endes doch nur eine Last für sie?
Als ich mich in diesem Moment aufsetzte, fiel etwas aus meiner Tasche. Ich hob es auf und bemerkte, dass es das Bild war, das sie mir gegeben hatte. "Ich bin also die Sonne über ihrem See, hm?", murmelte ich in Erinnerung an ihre Worte. Leise lachte ich. Sie mochte mich ehrlich, nicht wahr? Sonst wäre sie nicht immer so nett zu mir, so herzlich.
Ich musste langsam akzeptieren, dass ich auch mehr als eine Enttäuschung sein konnte. Es war möglich, das hatte sie mir gezeigt. Und um ihr wenigstens ansatzweise zurück zu zahlen, was sie mir gab, wenn ich es auch nie ganz schaffen würde, musste ich einfach daran glauben.
Plötzlich kam mir eine Idee, wie ich beginnen könnte: Ich würde ihr einfach mit dem großen Problem helfen, unter dem sie so litt. Sie unterstützen, wie sie mich unterstütze. Ja, so würde ich den Anfang machen. Ein Glück, dass die Krankheit ausgebrochen war, als ich im Gemeinschaftshaus unserer Sippe gewesen war.
Dad hatte hier etwas Geschäftliches zu regeln gehabt und ich hatte ihn abholen sollen. Sie hatten nicht genug Zeit gehabt, um mich wieder heim zu bringen, oder zu den Verließen. Also hatten sie mich vorerst kurzerhand in den unterirdischen Teil der Bücherei gesperrt - den Teil mit den Geschichtsbüchern. Na, wenigstens hatte ich jetzt genug Informationsmaterial. Und solange ich isoliert von anderen Personen war, würde die Mordlust auch nicht zurück kehren. Ich konnte mich also ganz darauf konzentrieren, Informationen zu sammeln.
Mal sehen. Welche Bücher könnte ich denn nutzen...? Hm... Ah! "Die (Dolch)Herzkönigin - Geschichte der Blumentode." Das klang doch gut. Oder hier: "Meilensteine der Stadtgeschichte" und "Adel und Religion der Zeit - Herrschaftsformen der Arten" Und vielleicht ja auch das hier, oder dies...
Am Ende hatte ich eine Stapel von etwa fünfzehn Büchern. Ich setzte mich an den ungemütlichen Tisch, schaltete die Leselampe ein und begann mit meinen Recherchen. Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß. Vielleicht waren es Minuten, vielleicht Stunden, vielleicht auch ein halber Tag. Ohne das Licht der Sonne war es schwer, das so genau zu sagen, und eine Uhr hatte ich auch nicht.
Doch ich merkte ohnehin kaum, wie die Zeit verging, während ich ein Buch nach dem anderen aufschlug, die Inhaltsverzeichnisse durchging und sie entweder sofort wieder weglegte, oder aber in den entsprechenden Kapiteln nachschlug. Ich fand viele interessante Dinge heraus, doch leider nichts, was in irgendeiner Weise hilfreich gewesen wäre. Die meisten der neuen Erkenntnisse, die ich durch die Bücher erlangt hatte, waren auch nicht grade angenehm. Dolchherzen sollten nur für eine Person Gefühle entwickeln können. Nur eine einzige Person war in der Lage, sie irgendwas fühlen zu lassen, ansonsten war ihr Herz taub für alles außer Hass und Wut und Sadismus.
Stimmte das? Lyra war nicht so, das sah man sofort. Die Fuchsdämonin war so emotional, auch wenn sie es derzeit unterdrückte.
Sie unterdrückte es und doch ließ Jurij sie etwas fühlen. War er etwa diese eine Person für sie, ihr Ahiaschda? Eine kleine Stimme der Eifersucht meldete sich in meinem Herzen, wenn auch nur kurz. Trotzdem verwunderte es mich. Sie war doch nur eine Freundin.
Naja, andererseits war sie auch meine erste Freundin überhaupt und meine Gefährtin. So überraschend war meine Reaktion also gar nicht, es war ganz normal. Nun kam ich mir dumm vor, dass es mich gewundert hatte.
Nachdenklich schlug ich das Buch zu, das ich grade gelesen hatte und nahm das letzte zur Hand. Kapitel zehn handelte von dem Umsturz der Dolchherzen, also blätterte ich zu der entsprechenden Seite:
Die Dolchherzen waren also die Herrscher der meisten übernatürlichen Städte. Jede Stadt, auch Featherfield, hatte einen eigenen Monarchen, der sich einen Beraterstab zusammenstellte. Königin Larabella de Lamour, die letzte Königin der Dolchherzen, hatte nur einen einköpfigen Beraterstab aus inzwischen unbekannten Gründen.
Der Bruder ihres Vertrauten allerdings war der Anführer der Rebellen, die auch die letzte Dolchherzkönigin stürzen wollten. Da sie über besonders stark ausgeprägte Magie verfügte, konnte sie auch keinen Hass oder Rachsucht fühlen. So konnten die Brüder sie gemeinsam überzeugen, in einen Vertrag einzuwilligen. Sie würde den Fuchsdämonen die Herrschaft überlassen und die Dolchherzen in die Gemeinschaft etablieren. Doch dafür wollte sie eine Bedingung erfüllt bekommen.
Viele Details über dieses Ereignis gingen mit der Zeit verloren. Unter Anderem ist also auch die Information, was diese Bedingung war, bis heute nicht bekannt.
An dieser Stelle hörte ich mit dem Lesen auf. Den Rest wusste ich so ungefähr, wenn auch nicht so detailliert beschrieben, wie in diesem Buch.
Ich dachte daran zurück, wie Lyra mir erzählt hatte, was sie über ihre Familie herausgefunden hatte. Ich war ziemlich überrascht gewesen. Sicher, ihr Nachname war mir schon aufgefallen, aber trotzdem hätte ich es nicht gedacht, besonders da sie selbst es nicht gewusst hatte. Doch es war so: Sie war eine direkte Nachfolgerin jener Fuchsbrüder, die Larabella de Lamour so überraschend friedlich absetzen, damit keine Dolchherz mehr auf dem Thron saß.
Leise lachte ich auf. Na, wenn die gewusst hätten, dass die Krone irgendwann an ausgerechnet diese Ahnin, die eine halbe Dolchherz war, weitergegeben werden würde...
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Die Dämonenspiele der Dolchherzen
FantasyLyra ist neu in Featherfield, einer Stadt nur für nicht-Menschen. Davor hat sie in der Welt der Menschen gelebt, hat sich wie ein Mensch verhalten, hat so getan, als sei sie ein Mensch. Eine schwere Aufgabe, wenn man Fuchsohren auf dem Kopf hat... ...