Warum? Ich wollte es wirklich wissen, unbedingt, schon seit einiger Zeit eigentlich. Warum war sie verschwunden? Warum behandelten mich alle wie ein rohes Ei, nur damit ich ihnen nicht böse war, wenn ich in die Fußstapfen meines Vaters treten würde? Warum machte sich niemand die Mühe, mal meine Gefühle in Betracht zu ziehen, nicht nur meine Sicherheit oder Bedürfnisse? Warum, warum war ich so allein? Was hatte ich getan, dass sie mich verlassen würde, mich alleine lassen, ohne ein Wort des Abschiedes verschwunden?
Jurij... Ich hab Angst, Jurij. Pass auf mich auf, ja? Bitte, Jurij... Jurij? Wo bist du? Ach, komm schon! Es riecht hier so nach Hund, ich weiß dass du da bist... Sag es keinem, okay?... Aber was sagst du denn, Jurij? Wir sind doch Freunde, du bist nicht allein...Jurij!...Jurij...Jurij... Jurij...
Ärgerlich schnalzte ich mit der Zunge. Ihre Rufe verfolgten mich noch immer. Ihr Lachen und ihre Stimme, wenn sie mit mir sprach, wenn sie mich beim Namen nannte, für mich da war. Gott, verdammt! Es waren schon zwölf Jahre vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Langsam war es wirklich an der Zeit, mich von den Tagträumen zu lösen, in denen ich sie wiedersehen würde.
Ja, es war wahr, dass sie mir versprochen war und, ja, ich war, schon so lange ich denken konnte, auf sie geprägt. Trotzdem sollte ich mich langsam mal mit dem Gedanken anfreunden, dass sie mich vergessen hatte. Oder dass sie mit einem Anderem zusammen war, jemand anderem über den Kopf streichelte, jemand anderen auf sich aufpassen ließ, jemand anders...
Es ging einfach nicht. Allein der Gedanke, dass es möglich sein könnte, entfachte in mir brennende Wut und ätzende Eifersucht.
"Jurij?", hörte ich eine zögerliche Stimme hinter mir. Ich erkannte die Stimme, es war mein kleiner Bruder, Kaijel, nach mir gleich der Nächste in der Rangfolge des Rudels. Ich lächelte meinen Bruder an, als wäre ich ein fröhliches Schoßhündchen, als ich ihn zurück fragte: "Was gibt's, Kai?"
"Nichts, nichts. Nur... Du hast wieder so komisch geschaut, weißt du? Ich meine, du hattest wieder diesen Blick und naja... Ich wollte nur fragen, ob alles gut ist...", murmelte er mit roten Wangen. Er sprach nicht oft mit mir, was man auch sehr schnell merken konnte. Keiner sprach vertraut mit mir, nichtmal meine Brüder. Eigentlich hätte das traurig sein müssen, aber im Grunde war es eher lächerlich. Ich war mir sicher, wenn wir Werwölfe nicht auf dem vierten Rang stehen und unser Rudel nicht das Viertel hier regieren würde, jeder der Anwesenden würde uns für dieses Verhalten auslachen. Tja, Angst konnte hat auch ihre guten Seiten haben...
"Ja, alles gut.", antwortete ich nur wage, da ich wusste, wie unangenehm es Kaijel war, überhaupt mit mir zu reden. Sicher bereute er es inzwischen schon wieder, dass es mich angesprochen hatte. Ich sah es in seinen Augen, er wünschte sich ganz weit weg von mir. "Oh, verstehe. Tut mir leid, dass ich deine Zeit verschwendet habe.", murmelte er grade noch, bevor er sich umdrehte.
Ich sah nachdenklich zu, wie er ging. Dieser Blick, hm? Es klang so, als würde man mir ofter ansehen, was ich dachte. Trocken lachte ich auf. Ja, vermutlich war ich ein offenes Buch, aber diejenigen um mich herum waren ständig zu verängstigt, um es mir zu sagen.
Als Klingel ertönte und ich von ihr zum Unterricht gerufen wurde, wurde ich zum zweiten Mal aus meinen Gedanken gerissen.
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Der restliche Morgen verlief recht ereignislos. Obwohl ich die ganze Zeit über von einem eigenartigen Gefühl begleitet wurde. Es war, als würde mich etwas rufen. Etwas, dessen Ruf ich folgen wollte. Und das machte mich nervös, unruhig, aggressiv. Die Leute um mich herum schienen es zu bemerken, jedenfalls kann ich mich so im Nachhinein nicht daran erinnern, nochmal angesprochen zu werden oder mich irgendwo durchzukämpfen.
Ich wusste, dass es falsch war, ohne Grund sauer auf alle um mich herum zu sein, aber ich konnte nichts dagegen tun. Verdammt, ich wusste ja nichtmal, warum ich so sauer war! Zumindest nicht, bis ich den Grund dafür selbst sah. Es - oder besser: sie - war schwer zu übersehen. Immerhin sorgte sie dafür, dass viele Leute einfach so um sie herum gehen mussten.
Ich erkannte sie sofort, ohne dass es irgendwelche Zweifel gab. Vielleicht lag es an den Strähnen weißen Haares, die wie flüssiges Silber um sie herum wehten, oder an diesen unglaublichen goldenen Augen, die von einem violetten Ring umrandet waren, sodass sie noch mehr leuchteten. Ich wusste nicht, woran es schlussendlich lag, aber ich war absolut sicher, ein Fehler war gar nicht möglich.
"Lyra...", hauchte ich, noch immer geschockt davon, sie wieder zu sehen... sie. Das Mädchen sah auf und ich hätte alles getan, nur um dieses perfekt geformte Gesicht für immer ansehen zu können. "Jurij?", fragte sie, ebenso überrascht wie ich. Doch im nächsten Moment schüttelte sie den Kopf, steckte das Blatt, das sie eben noch angesehen hatte, in ihre Umhängetasche und drehte sich weg. "Ich muss gehen...", murmelte sie.
"Was? Nein, warte! Wir haben uns doch grade erst wiedergesehen. Geh noch nicht, lass uns reden. Es ist so lange her...", versuchte ich verzweifelt, sie aufzuhalten. Ich wollte sie nicht verliehen, nicht nochmal. Doch sie schüttelte nur wieder den Kopf. "Ich kann nicht. Bitte, Jurij, lass einfach gut sein. Ich möchte nicht wirklich in deiner Nähe sein."
Na, das war mal eine klare Ansage. Aber ich konnte das nicht einfach so auf sich beruhen lassen, selbst wenn sie mich darum bat. Also rannte ich ihr hinterher, im vollen Bewusstsein darüber, dass wir von den plötzlich stillen Mitschülern angestarrt wurden. Doch mir war das egal. Im Moment zählte nur sie, nur meine Gefährtin, meine einzige Liebe.
"Sag mir wenigstens warum.", verlangte ich von ihr. "Warum?", wiederholte sie genervt und fast schon spöttisch, "Ich will nicht, ist das nicht Grund genug?" "Warum willst du nicht? Komm schon, ich habe das Recht zu erfahren, warum du mich abweist.", stocherte ich weiter nach. Ich konnte nicht zulassen, dass sie einfach so ging, wenn ich nicht wenigstens den Grund kannte. "Nein, hast du nicht.", entgegnete sie jedoch scharf. Dann bleib sie endlich stehen, drehte sich zu mir um und seufzte genervt: "Hör mir zu, Jurij: Jede Beziehung, die du mal zu mir gehabt haben glaubst, liegt schon längst in der Vergangenheit. Also, bitte, verschone mich und las mich endlich in Ruhe." Damit drehte sie sich wieder um und ließ mich einfach so zurück.
Fluchend rammte ich meine Faust in eine nahegelegene Mauer. Das durfte doch alles nicht wahr sein! So kurz davor, sie endlich wieder zurück zu bekommen, nach all den Jahren, und ich hatte es nicht schaffen können? Es war einfach so... so unfair! Ich sah nochmal in die Richtung, in der sie verschwunden war. Morgen, sagte ich mir, morgen würde ich nicht wieder versagen. Ich konnte nicht, durfte nicht...
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Die Dämonenspiele der Dolchherzen
FantasiLyra ist neu in Featherfield, einer Stadt nur für nicht-Menschen. Davor hat sie in der Welt der Menschen gelebt, hat sich wie ein Mensch verhalten, hat so getan, als sei sie ein Mensch. Eine schwere Aufgabe, wenn man Fuchsohren auf dem Kopf hat... ...