Na, das war doch mal besser gelaufen, als ich erwartet hatte. Zwar war Rem nun bleich wie ein Gespenst, aber zumindest war er nicht fluchtartig geflohen, hatte mich nicht verraten, hatte keine Szene gemacht, nicht für Aufmerksamkeit gesorgt. Angesichts der Umstände war das eine wirklich bewundernswerte Leistung von ihm.
Ich warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu, doch er war völlig konzentriert auf den Unterrichtsstoff. Leider reichte diese Ablenkung nicht dazu, dass er seine normale Gesichtsfarbe wieder bekam.
Überrascht drehte ich mich ganz zu ihm, als ich bemerkte, dass er sich gemeldet hatte. Er schien nicht so der Typ zu sein, der sich meldete oder die Stimme erhob. Er war eher ruhig und zurückhaltend. Sich zu melden, besonders, wenn es den Unterricht unterbrach, sah ihm nicht wirklich ähnlich. Zumindest nicht soweit ich es bis jetzt beurteilen konnte.
"Ja, Mister Shá?", fragte Mister Tempesta, unser Lehrer in 'Kunde der Zaubertränke', scheinbar ebenso überrascht wie ich. Ein Rundblick durch den Klassenraum bestätigte meine Vermutung: Niemand hier hätte damit gerechnet.
"Äm... Also, wenn es einen Liebestrank gibt, dann... Könnte man nicht auch das Gegenteil machen? Gefühle betäuben, meine ich?", murmelte Rem unsicher und mit hochrotem Kopf, ohne den verwunderten Blicken Beachtung zu schenken.
Als er das sagte, wurde mir klar, was hier ablief. Da konnte ich nicht anders, als ihn stolz anzulächeln. Es war wirklich unglaublich süß von ihm, dass er extra für mich gegen sein gewöhnliches Verhaltensmuster handelte. Natürlich war ich die Einzige hier, die die Absichten hinter seiner Frage verstand. Ich war ja auch die Einzige hier, die wusste, wofür er einen solchen Trank brauchen könnte.
Mister Tempesta sah Rem nachdenklich an, was dafür sorgte, dass dieser unruhig auf seinem Stuhl umher rutschte.
"Was Rem damit sagen wollte, ist, dass man doch auch in der Lage sein sollte, den Teil im Hirn, der für Emotionen zuständig ist, zu betäuben, wenn man ihn doch auch anregen kann.", erklärte ich dem Lehrer, was mein Freund damit meinte, sodass die Aufmerksamkeit nun auf mir ruhte. Ich hoffte, den Druck so etwas von ihm zu nehmen.
"Nun, sicher wäre das möglich.", antwortete Mister Tempesta noch immer nachdenklich. "Aber es wäre sehr gefährlich. Die Dosierung könnte leicht zu hoch oder zu niedrig sein. Es muss immer ganz individuell angepasst werden, daher ist es schwer, das einzuschätzen." Bevor der Lehrer jedoch weiter ins Detail gehen konnte, wurde er von der Pausenglocke unterbrochen. Sein gerufenes "Denkt an eure Hausaufgaben! Kommt gut nach Hause." ging schon in dem Geraschel und Geplapper der Schüler unter.
Ich wollte möglichst schnell aus diesem nach Froschleber und uraltem Lavendel riechenden Unterrichtsraum raus, weshalb ich nicht wie üblich darauf wartete, dass die Anderen bereits draußen waren. Um diesem widerlichen Geruch zu entkommen waren ein paar blaue Flecke ein recht annehmbares Opfer.
Rem schein das genauso zu sehen, denn er zog mich sogar raus und rannte einige Meter. Erst als er tief durchatmend auf der Wiese des Pausenhofes stehen blieb, realisierte er, was er da grade getan hatte. Zumindest war es, was ich vermutete, denn da erst wurde er hochrot und sah mich geschockt an. "Oh, Ich... T-Tut mir...", murmelte er, ohne mich wirklich anzusehen.
Ich lachte nur, womit ich ihn unterbrach: "Danke, wirklich. Ich glaube, wenn ich noch länger da gewesen wäre, wäre ich erstickt." Zuerst sah er mich überrascht an, dann erleichtert. "Meine Güte, du musst wirklich mal an deinem Pokerface arbeiten, weißt du das? Du bist viel zu offen.", lachte ich, während wir langsam das Schulgelände verließen.
Rem sah mich daraufhin nur überrascht an. "Ist das denn nicht gut? Wenn ich offen bin, weißt du zumindest, dass ich nichts verberge."
"Na, offen bedeutet noch lange nicht ehrlich. Du würdest dich wundern, wie gut Leute lügen können. Ganz besonders die offenen, weil man es bei denen ja schließlich nicht erwartet."
"Spricht da die Erfahrung?"
"Mhmm. Meine Familie hatte so einige Geheimnisse. Auch vor mir, fürchte ich..." Doch bevor er auf diesen Kommentar eingehen konnte, umarmte ich ihn und schenkte ihm noch ein letztes Lächeln. "Wir sehen uns dann morgen, ja?" Er nickte nur, überrascht vom schnellen Themenwechsel, aber er lächelte auch zurück. Leise lachend wand ich mich ab und trat den Heimweg durch den Wald an.
Es war wirklich niedlich, wie glücklich er darüber war, dass ich ihn nicht... nun ja, für etwas hasste, wofür er am Ende nicht mal was konnte. Er bemühte sich sichtlich, damit er es nicht in den Sand setzte, und das war wirklich angenehm. Ich hatte auch Angst davor, schon allein weil ich durch einen einzigen Fehler so viel Schaden anrichten könnte. Aber wenn wir beide Angst davor hatten, war es nicht ganz so schlimm.
Außerdem musste ich in seiner Gegenwart nichts fühlen und nachdem ich mich langsam daran gewöhnt hatte, war das auch ganz entspannend.
Meine Gedanken drifteten wieder zur vergangenen Unterrichtsstunde. Mir wurde ganz warm uns Herz, wenn ich daran dachte, dass er sich schon nach so kurzes Zeit so sehr für mich einsetzte, und ich wurde auch aufgeregt, da ich nun wusste, dass es eine Möglichkeit gab, meine Gefühle mit einem Trank zu betäuben.
Aber schnell erinnerte ich mich selbst wieder daran, dass meine Gefühle ohne Rem in der Nähe tatsächlich da waren, dass ich sie tatsächlich fühlte. Also schüttelte ich den Gedanken daran einfach wieder ab. Ohne ihn in der Nähe durfte ich nicht fühlen. Ich durfte nicht. Sonst würde Gott weiß was passieren...
Ich kam wieder aus dem Wald raus. Nun waren es nur noch zwanzig Meter bis zu Vaters Haus. Ich konnte es sogar schon sehen. Die Nachbarn betrachteten mich argwöhnisch, als ich vorbeiging.
Ja, ja, das neue Mädchen, dass ohne ihre Eltern wohnt, wird komisch angesehen. Und dann ist sie auch noch die Tochter des ehemaligen Bewohners dieses Hauses... Regt euch ab, also ehrlich!
Seufzend schloss ich die Haustür auf, drinnen war ich vor ihren Blicken in Sicherheit. Ich öffnete den Kühlschrank, beschloss dann aber, dass es nur der Appetit meiner Fuchs-Seite war. Also genügte ich mich mit einer Tasse Tee, den ich nach einem von Mutters Rezepten selbst gemacht hatte. Schließlich ging ich in mein Zimmer, nahm den Laptop vom Ladekabel und ging wieder runter, um mich im Erker einzukuscheln.
Ich war wirklich froh, dass ich jetzt einen hatte, das musste ich schon sagen. Im alten Haus hatte es keinen gegeben, ebensowenig ein Kamin. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, was mir da entgangen war...
Aber ich hatte mich nicht hier hin gesetzt, um meinen neuen Lieblingsplatz zu genießen. Ich war hier, um noch einen Blick auf die Internetseite zu werfen, die ich gestern Abend geöffnet hatte.
Ich hatte ja ursprünglich eigentlich nur vorgehabt, etwas über meinen Gefährten - also über Jurij - zu erfahren. Doch auf dieser Internetseite hatte ich nicht nur Informationen über ihn gefunden, sondern auch eine schockierende Wahrheit über mich selbst, die meine Eltern wohl irgendwie vergessen hatten, mir zu sagen. Genauso, wie die Tatsache, dass wir reich waren, oder dass ich mehr als nur einen Gefährten hatte.
Wie in Trance sah ich auf den Bildschirm, der mir noch den gleichen Anblick bot, wie gestern. Was sie wohl sonst noch so zu erwähnen vergessen hatten...?
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Die Dämonenspiele der Dolchherzen
FantasyLyra ist neu in Featherfield, einer Stadt nur für nicht-Menschen. Davor hat sie in der Welt der Menschen gelebt, hat sich wie ein Mensch verhalten, hat so getan, als sei sie ein Mensch. Eine schwere Aufgabe, wenn man Fuchsohren auf dem Kopf hat... ...