Teil 32: Lyra

16 2 0
                                    

Sie saß die ganze Zeit über überraschend ruhig da und hörte aufmerksam zu. Auch nachdem ich fertig erzählt hatte, nickte sie nur und trank den letzen Schluck Tee aus ihrer Tasse. Nachdem sie ihre Tasse abgestellt hatte, sah sie gedankenverloren an mir vorbei. Vermutlich dachte sie grade über meine Worte nach oder überwand den Schock. Aber alles in allem war ich wirklich überrascht, wie ruhig sie blieb und das trotz der Bedeutung meiner Worte.

"Es kann also jederzeit ausbrechen, wenn Ihr etwas fühlt?", fragte sie schließlich nochmal nach. Ich nickte, um ihr zuzustimmen. Seit ein paar Sekunden hatte ich nicht mehr eingeatmet, also konnte ich im Moment auch nichts sagen, doch das fiel mir nur am Rande auf. Hauptsächlich konzentrierte ich mich darauf, dass Aja vor mir saß und gleich eine Entscheidung treffen würde. Eine, deren Ausgang enorme Folgen für uns beide und in gewissem Maße auch für Rem haben würde.

Ich wusste, worauf ich hoffte. Nämlich darauf, dass sie zustimmte, weiterhin bei mir zu sein. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass ich sie niemals zu irgendwas nötigen würde. Das hier war mir aus einem mir selbst nicht so ganz klaren Grund doch sehr wichtig, sicher, aber dann auch wieder nicht so wichtig. Noch wichtiger war eben, dass sie weiterhin eine unabhängige Person war, dass sie weiterhin sie selbst war, dass sie aus freiem Willen handelte.

Ich schloss meine Augen und atmete kontrolliert. Genau, ich durfte sie zu nichts zwingen. Das war jetzt wichtig, wichtiger als mein Wunsch. Ich durfte mein Verlangen nicht meine Taten beeinträchtigen lassen, das hatte ich noch nie. Seit ich denken konnte, hatten meine Eltern mir drei Dinge eingeprägt:

1.: Finde einen Anker im Leben, halte dich am Licht fest, damit keine Dunkelheit in dein Herz kommen und deine Gedanken vergiften kann. So wirst du immer auch die Schönheit des Lebens sehen, anstatt in ein Loch aus Hilflosigkeit zu fallen.

2.: Öffne dein Herz für alles Neue, schließe nicht von einem Fall auf einen anderen, sodass dein Bild von allem und jedem ungetrübt bleibt. So kannst du dich von den meisten Ungerechtigkeiten befreien, um dann frei von ihnen zu vertrauen und leben.

Und, was wohl am wichtigsten war:

3.: Handle nach dem, was dein Gewissen und dein Herz dir sagen, ohne auf dieses Flüstern der Selbstsucht in dir zu hören, um dir selbst treu zu bleiben. So bist du im Stande, dein Gewissen rein zu halten, auch wenn du dich in deiner Entscheidung mal irren oder in irgendeiner Weise Unglück erfahren solltest.

Es waren drei alte Lehren, die schon lange, lange Zeit unter den vier von Göttern geschaffenen Dämonenarten - die Fuchsdämonen des Neuanfangs, die Phönixe der Lebensenergie, die Höllendämonen der Rache und die Erzengeln der Reinheit - weitergegeben wurden. Diese drei Lehren wurden bei Einigen, wie etwa den Erzengeln, genauer genommen als bei Anderen, wie beispielsweise den Höllendämonen. Und Einige - hier könnte man die Phönixe nennen - ignorierten sie gänzlich, um sich an andere Prinzipien zu halten. Der Rest, mit anderen Worten - Wer hätte es gedacht? - die Fuchsdämonen, gab die Lehren zwar weiter, hielt sie aber eher als Richtlinien parat, als eine Art Wegweiser für den Fall, dass man mal nicht weiter wusste.

Nun ja, zumindest die meisten Fuchsdämonen. Da ich auch zur Hälfte eine Dolchherz war, war es unbedingt nötig gewesen, dass ich mich immer und ausnahmslos daran hielt. Es war die einzige Vorbereitung auf die Kräfte meiner Mutter gewesen, die meine Eltern mir mit auf den Weg gegeben hatten - oder mir zu geben überhaupt im Stande gewesen waren, da wir ja schließlich schlecht in der Menschenwelt dafür hätten trainieren können.

Und nun war ich ihnen dankbarer als ja zuvor, denn das selbstsüchtige Verlangen, Aja zu erpressen, damit sie sich bloß nicht von mir abwandte, wuchs mit jeder Sekunde des Schweigens. Sicher waren es nicht viele Sekunden, doch sie zogen sich wie Kaugummi und so fühlte es sich für mich wie tausende Stunden an, in denen alles von dichtem Nebel verschleiert wurde. Nur die dritte der Lehren immer und immer wieder in meinen Gedanken zu wiederholen, konnte mich vor diesem unfassbar schlimmen Fehltritt bewahren.

Und doch fühlte ich, wie meine Willenskraft immer weiter schwand, wie mein Widerstand immer lachhafter schien und somit wackeliger wurde. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so schnell in der Lage war, meine Entscheidung, meine Prinzipien, meine Moral so sehr anzuzweifeln. Es machte mich verrückt, mit erschreckender Geschwindigkeit, die ich vor wenigen Minuten, ja, sogar wenigen Augenblicken noch für unmöglich gehalten hätte. Sogar, obwohl ich wusste, dass es nur an der Dunkelheit lag, die ich von meiner Mutter übertragen bekommen hatte.

Ach, verdammt! Wie sehr ich diese Ungewissheit, diese Anspannung, dieses Warten hasste! Noch nie zuvor war mir etwas so zu wieder gewesen. Niemals, nichtmal ansatzweise. Naja, zumindest fast nichts, ein paar Dinge gab es da schon. Die Schatten in mir, die dunklen Momente des Todes meiner beiden geliebten Eltern...

Aber viel war es sicher nicht!

"Wisst Ihr...", meldete sich Aja schließlich wieder zu Wort, was mich sofort dazu brachte, meine Augen wieder zu öffnen. Ich zog meine Augenbrauen hoch, um ihr zu zeigen, dass sie meine Aufmerksamkeit für sich hatte. "...bei dem Meervolk gibt es da so einen Brauch, was uns Krieger betrifft.", fuhr sie langsam fort, dann hob sie die Hände und fügte schnell hinzu: "Also, es ist ein sehr alter Brauch, vermutlich schon zu alt. Wenn Ihr nicht wollt, ist das auch okay, ich will es nur vorgeschlagen haben. Und meistens wird es auch nicht mehr gemacht, aber ich denke, es könnte... nun... nützlich sein."

"Ja...?", machte ich und forderte sie mit einer Handbewegung auf, weiter zu sprechen. Sie atmete tief durch, offensichtlich war sie nervös und es schien ihr unangenehm zu sein. Nein, eigentlich war sie eher nervös. Es schien mir fast, als wisse sie nicht so recht, wie sie es am besten ausdrücken solle. Ein Zustand, in dem ich mich in letzter Zeit leider auch immer wieder gefunden hatte.

Ich ließ ihr Zeit, auch wenn ich meine Hand zu einer Faust ballen musste, um das hinzubekommen. Himmel, Arsch und Zwirn, war das schwer! Hoffentlich merkte man es mir nicht an, oder zumindest nicht zu sehr...

Aja seufzte nochmal und murmelte, ohne mich dabei direkt anzusehen: "Die Krieger des Meervolkes sind dazu da, ihren Meistern zu dienen und diese zu schützen. Und deshalb war es in alten Zeiten so, dass sie... wenn sie ihren Meister dann gefunden hatten... also, um ihre Aufgabe besser erfüllen zu können... zusätzlich zu dem ganzen Akzeptieren und Seelen aneinander binden, was ja auch heute noch gemacht wird... Äm..." An dieser Stelle atmete sie nochmals tief durch, sah mir kurz in die Augen, kniff ihre dann zu und sagte ganz schnell, wohl um es hinter sich zu bringen: "Sie lebten bei ihren Meistern und machten sich zu deren Eigentum um ihre Loyalität zu beweisen, und genau das würde ich auch gerne tun... Wenn Ihr es zulassen würdet."

Die Dämonenspiele der DolchherzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt