Teil 36: Lyra

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Aja und ich redeten noch bis spät in die Nacht hinein. Nach den ersten merkwürdigen und vor allem verwirrenden Minuten hatten wir wirklich viel Spaß.

Wir beschlossen, das mit dem Umziehen tatsächlich durch zu führen. Es war unfassbar, dass wir das wirklich taten. Aber sie war immerhin volljährig und war sich auch sicher, dass ihre Familie es verstehen würde. Und so eigenartig sich der Gedanke, nach beinahe fünf Monaten nicht länger allein zu leben, auch anfühlte, ich war wirklich froh darüber. Auf einmal war mir klar geworden, wie kalt und leer sich das Haus meines Vaters, mein Haus, angefühlt hatte. Ich hatte verstanden, warum ich es nicht wirklich als ein Zuhause hatte betrachten können: Das Zuhause war nunmal dort, wo die Familie war. Und ich hatte keine Familie mehr, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, mir langsam wieder eine aufzubauen, eine vollkommen neue diesmal. Zuerst Rem, dann Aja und wer wusste, wer noch dazu kommen würde? Es machte mich froh, zauberte mir sofort ein Lächeln auf die Lippen. So wohl wie mit diesem Gedanken hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

Als Aja wieder weg war und ich das Geschirr weggeräumt hatte, fiel mein Blick auf das Fotobuch meines Vaters. Dad waren Erinnerungen schon immer wichtig gewesen, also hatte er sie immer wahren wollen. Ich wunderte mich ehrlich gesagt, dass er es zurück gelassen hatte, als wir aus Featherfield rausgezogen waren. Aber ich war auch erleichtert darüber, dass dieses Buch, was ihm ja so viel bedeutet hatte, nicht mit ihm im Feuer verbrannt war.

Seufzend setzte ich mich vor den Kamin und lauschte den Klängen des Feuers. Ich liebte Feuer, liebte diese einzigartige Wärme und das flackernde Licht. Es faszinierte mich und entspannte mich zugleich. Wie eigenartig, obwohl es doch auch das Feuer gewesen war, was mir alles genommen hatte. Aber aus irgendeinem Grund war der Schmerz schon leicht verheilt, auch wenn mir klar war, dass er nie ganz verschwinden würde. Vermutlich hatte ich es Rem zu verdanken und der Hilfe, die er mir immerzu bot. Er war immer bei mir, war immer für mich da. Erst jetzt, wo ich nicht mehr zu ihm konnte, wurde mir klar, wie sicher er mich fühlen lies, einfach nur weil er da war.

Ich sah noch eine Weile ins Feuer, dann stand ich wieder auf und holte aus dem Schrank im Flur einen hellblauen Umschlag, den ich erhalten hatte, kurz bevor Aja angekommen war: Der neueste Brief von Jurij.

Ich konnte einfach nicht anders, als den Brief zu lesen, auch wenn ich wusste, wie gefährlich es für mich und alle in einem Umkreis von mehreren Kilometern war. Meine Gefühle für ihn schienen einfach nicht erlöschen zu wollen. Naja, kein Wunder, immerhin war auch er einer meiner Gefährten. Da war es doch ganz normal, dass ich starke Gefühle für ihn hatte und diese nicht ändern konnte. Aber warum war es dann nicht mehr ganz so schmerzhaft, wie am Anfang? Hatte es vielleicht etwas mit Rems Trank auf sich oder war es möglicher Weise, weil ich nicht mehr ganz so allein war? Ach, auch egal. Immerhin war es ja nicht so, als könne ich einfach zulassen, etwas für ihn zu empfinden, nur weil wusste, warum ich nicht mehr ganz so stark darunter litt.

Anstatt mir also weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, setzte ich mich wieder vors Feuer und öffnete den Umschlag, um das gleiche, schwere Briefpapier vorzufinden, wie gestern auch. Ich fühlte die Beschaffenheit des Papiers nach, genoss das aufgeregt prickelnde Gefühl in mir, ehe ich den Brief dann auseinander faltete, um ihn zu lesen:


"Meine geliebte Lyra,

Heute bist du wieder vor mir weggerannt. Ich weiß nicht mal, ob du meinen letzten Brief gelesen hast, oder ob er einfach im Müll gelandet ist. Ist auch nicht wichtig, ich würde so oder so nicht derart schnell aufgeben. Aber Askjell hat mir erzählt, dass die gute Aja auch eine deiner Gefährten ist. Herzlichen Glückwunsch, jetzt hast du schon die Hälfte beisammen!

Doch auch wenn ich mich natürlich sehr für dich freue, ich muss auch sagen, dass ich etwas beunruhigt bin. Wenn es so schnell weiter geht mit deiner Suche nach deinen Gefährten, dann dauert es sicher auch nicht mehr lange, bis du denjenigen gefunden hast, zu dem dein Herz gehört. Und obwohl ich denjenigen nicht kenne, bin ich unglaublich neidisch auf ihn! Ich weiß nicht, ob du denkst, dass ich dich nur wegen des Bandes der Gefährten liebe, das du ja scheinbar nicht mal teilst. Das ist jedenfalls nicht wahr. Sicher, am Anfang habe ich dich deshalb so sehr gemocht, aber schon als wir Kinder waren ist das nicht der einzige Grund gewesen. Du bist schön, intelligent, stark, wild und einfach wunderbar. Wer das nicht erkennt muss schon sehr dumm sein. Also selbst wenn da kein Schicksalsband zwischen uns wäre, ich würde dich trotzdem leiben.

Ist dir vermutlich ziemlich egal, was? Falls du das hier überhaupt lesen solltest, schüttelst du jetzt sicher nur den Kopf. Aber es ist mir einfach wichtig, es dir mal gesagt zu haben. An meinem Versprechen hat sich natürlich nichts geändert: Ich werde dir zeigen, dass wir auch ohne die Gefährtennummer wunderbar zusammen passen.

Bis dahin, in Liebe,

Jurij."


Nachdem ich die Worte durchgelesen hatte, wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Wenn ich es ihm doch nur sagen könnte...

Ich konnte fühlen, konnte sehen, dass er darunter litt, von mir so kalt behandelt zu werden. Und mir ging es ja nicht anders! Es fraß mich innerlich auf. Doch ich hatte wenigstens den Trost, dass ich ihn damit beschützte. Er hatte sowas nicht, weil ich es ihm nicht geben konnte. Dieses Wissen tat weh, mehr als ich hätte in Worte fassen können.

Ich atmete ein paar mal tief durch und beruhigte mich wieder, verdrängte meine Gefühle - und erst da fiel mir auf, wie nahe ich daran gewesen war, die Dunkelheit in mir aus seinem Käfig entkommen zu lassen.

Die Mahle, die mich als eine Dolchherz brandmarkten, taten weh, als ich meinen Schmerz so kurz vor der Grenze wieder drosselte. Das ziehen in der Haut war beinahe unerträglich, und dann fühlte es sich auch noch wie Salz an, das in eine offene Wunde gelingt war. Ich musste mir so stark auf die Lippe beißen, dass es zu bluten anfing, um in diesen zehn Sekunden der Pein nicht laut aufzuschreien. Schließlich aber hatte ich es wieder im Griff. Ein erleichtertes Seufzen kam über meine Lippen, als ich den Brief beiseite legte. Ein Glück, dass ich es noch hatte verhindern können. Nur eine halbe Sekunde länger und ich hätte es nicht mehr zurück halten können.

Ich musste wirklich dringend besser aufpassen...

Die Dämonenspiele der DolchherzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt