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Gähnend lief ich den altbekannten Weg zur Schule. Erst am Feld vorbei, dann an den alten Häusern entlang und zum Schluss durch die Innenstadt. Ohne die Musik, die in meinen Ohren dröhnte, wäre ich wahrscheinlich eingeschlafen. Gravity von Against The Current, meiner absoluten Lieblingsband.

Nach einem viertelstündigen Weg, erreichte ich meine Schule. Kurz vor dem Tor machten meine Füße halt. Sie stand trocken da. Ich schloss kurz meine Augen, atmete tief ein. Ich spürte die frische Luft in meinen Lungen. So schlimm würde es nicht werden. Beim ausatmen öffnete ich meine Augen.

Das massive Gebäude war von Schülern umringt. Zwar waren es nur wenige Schüler, die sich vor der Schule befanden, doch für mein Verständnis waren es zu viele. Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, dass die meisten schon drinnen waren. Ich tat es denen gleich und machte mich auf den Weg zu meinem jetzigen Klassenraum.

Die überfüllten Gänge engten mich ein. Überall waren kleine Kinder, Fünftklässler oder so, die mit einer unnatürlichen Energie durch die Flure tobten. Am liebsten wäre ich auf der Stelle umgedreht, doch das konnte ich mir nicht leisten. Durch den Feueralarm im letzten Schuljahr hatte ich schon genug Ärger angerichtet. Die zahlreichen Blicke, die auf mir lagen, ignorierte ich und konzentrierte mich best-möglichst auf den Flurboden.

Ich erreichte die Treppe zum 300-Trakt. Hier war es zu meinem Glück leer. Ich atmete tief ein, versuchte mich etwas zu beruhigen. Mein Puls ging viel zu schnell und meine Hände zitterten. Ich musste mich unbedingt beruhigen. In diesem Zustand war ich wieder die Witzfigur. Es war doch nur Schule. In 6 Stunden wäre ich hier wieder raus.

Plötzlich spürte ich einen Schmerz am Rücken und fiel nach vorne auf die Treppe. Zum Glück konnte ich meine Hände rechtzeitig ausstrecken, doch durchfuhr diese ein schmerzhaftes Ziehen. Tränen schlichen sich in meinen Augen. Es war so klar, dass mir so etwas passiert. Man konnte mich ja nicht in Ruhe lassen. Dieses Schuljahr würde genauso werden, wie das vorherige. Ich konnte mir nichts vormachen.


"Pussy." erklang von hinten.

Nach ein paar Sekunden richtete ich mich auf und verdrängte dabei meine Tränen. Wer auch immer mich geschupst hatte, würde meine Tränen nicht zur Sicht bekommen. Ein gehässiges Lachen ertönte neben mir, dann eilte der Übeltäter die Treppe hoch. Ich kannte die breitere Figur und die dazu gehörenden langen Haare. Freddy.

Ich schüttelte mich. Warum musste ich mit diesem Vollspast in einem Deutschkurs sein? Langsamer als zuvor bestieg ich die Treppe. Als ich vor dem Raum stand, hielt ich kurz inne und versuchte mich wieder zu beruhigen. Es klappte semi-gut, sodass ich die Tür mit zitternden Händen öffnete.

Wie erwartet war hinter dieser das pure Chaos. Es war sehr laut. Die Mädchen umarmten sich, da sie sich anscheinend nicht in den Ferien gesehen hatten und die Jungs schrien durch den ganzen Klassenraum, wie scheiße sie es fanden wieder hier zu sein. Und das geschah alles, obwohl der Lehrer schon an seinem Pult stand. Anders meiner Erwartung redete Tim mit dem Lehrer und war nicht von Mädchen und Jungen umringt.

Ich setzte mich unauffällig an einen Tisch am Rand der Klasse. Ich hatte sie nicht vermisst. Kein bisschen. Nicht die tratschende Mädchengruppe ganz vorne, nicht die Jungengruppe ganz hinten, nicht Freddy, nicht Tim... Wenn ich jemanden vermissen hätte müssen, dann wäre es Rafi gewesen. Als ich im Krankenhaus lag, hatte ich sogar von ihm eine kurze Nachricht empfangen.


Hey, Stegi! Hier ist Rafi. Hoffentlich geht es dir bald besser:)

Es war nur eine kleine Geste, doch sie bedeutete mir viel. Er war nun offiziell mit Tobi zusammen und laut Patrick würden sie eine perfekte Beziehung führen. Ich seufzte. Perfekt. Dieses Wort kannte mein Leben nicht.


Als ich zu Rafi schaute, saß dieser auf einem Tisch und beobachtete Tim. Seine lockere Körperhaltung widersprach seinem Gesichtsausdruck. Er wirkte angespannt. Dass einer von der Dreier-Gang alleine saß, kam selten vor. Vielleicht hatte es etwas mit seinem Outing zu tun. Wahrscheinlich waren die anderen beiden homophobe Arschlöcher. Ja, das würde passen.

Freddy dagegen stand in mitten eines Kreises und brachte viele zum Lachen. Die bösen Blicke die er heimlich Rafi zuwarf, entgingen mir dabei nicht. Er wirkte so erhoben, als fühlte er sich als etwas besseres. Falls das überhaupt möglich war, war er mir dieses Jahr noch unsympathischer.

Als Tim das Gespräch mit dem Lehrer beendet hatte, lief er einmal quer durch den Raum. Jedes Mädchen drehte sich zu ihm um. Es schien so, als würde Tim jeden Blick magnetisch anziehen. Kein Wunder. Er sah heute wirklich gut aus. Seine braunen Haare hatte er leicht nach oben gegelt  und das graue T-Shirt spannte sich an seinem Oberkörper. Mit der einen Hand in der Hosentasche strahlte er Lockerheit aus, doch sein Blick war versteinert. Seine Augen kalt. 

Die Jungs sahen zu ihm auf, so schien es und wollten, dass er sich zu ihnen stellte. Doch Tim war eben Tim und gesellte sich nicht zu dem großen Kreis, indem Freddy stand, welcher ihn schwach lächelnd ansah. Nein, Tim gesellte sich zu Rafi, welcher ganz alleine war.


Anscheinend war er doch kein homophobes Arschloch.


Neues Leben:( ~StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt