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Im Leben passieren viele Dinge und meistens auch aus einem bestimmten Grund. Oft sieht man in dem Moment nicht den Sinn und hinterfragt alles. Nach einiger Zeit tut man dies jedoch und man sieht die Situation von damals mit anderen Augen. Daran ist nichts falsch. Doch es gibt auch Dinge, die im Leben passieren und die man niemals verstehen wird. Man steht einfach inmitten einer Situation und kann nichts tun. Alles und jeder um dich herum lebt ganz normal weiter, während deine Welt zusammenbricht. Keiner kann dir einen plausiblen Grund und den Sinn dahinter erklären, denn niemand kennt ihn. Einer dieser Situationen ist der Tod, dem man niemals aus dem Weg gehen kann. Wenn eine geliebte Person stirbt, hinterlässt sie nur eine große Leere und die Erinnerungen, die diese Leere und den Schmerz vergrößern. Und was bleibt einem? Nichts. Einfach gar nichts.
Die geliebte Person verschwindet und man selber wandelt als lebendige Tote durch die Welt.
Man fühlt nichts.
Man sieht niemanden.
Man hört nichts.
Nur dieser Schmerz und diese große Leere sind da, mehr auch nicht.

Wenn ich meinen jetzigen Zustand in Worte fassen sollte, wäre das alles. Mehr könnte ich weder sagen, noch denken, denn ich verstehe nichts mehr.
Ich weiß nicht mehr, wer ich bin oder wo ich hingehöre. Ich kann weder denken, noch reden. Nur der Schmerz und diese Leere füllen meine Seele, während ich mit langsamen Schritten der Masse an Menschen folge, deren Gesichter ich nicht einmal sehen kann. Meine Blicke sind nur auf den Sarg vor mir gerichtet, welcher zur Grabstelle getragen wird. Ich folge ihm nur still, während Sara mich stützt. Obwohl ich mittendrin bin, bekomme ich nichts vom Geschehen mit. Alles läuft wie in Zeitlupe um mich herum ab, doch trotzdem ist in mir alles blockiert, sodass ich nichts mitbekomme. Ich fühle mich wie in einem Albtraum, aus dem ich nicht entkommen kann.
Das geht solange, bis sie den Sarg schließlich heben, um ihn ins Grab zu lassen. Erst dann wird der Schalter in mir umgelegt, sodass ich endlich realisiere, dass sich in diesem Sarg meine Mutter befindet. Die Frau, die mir die Welt bedeutet und ohne die ich nicht leben kann. Augenblicklich befreie ich mich aus Saras Griff und nähere mich mit langsamen Schritten dem großen Sarg. Die Männer scheinen mich zu bemerken, halten inne und treten zur Seite, um mir Platz zu machen.
Mit zitternden Händen streiche ich über ihren kalten Sarg, welcher mich sofort an ihre Hände erinnert.
"M..Mom..", stottere ich, während eine weitere Träne mir über die Wange rollt. "..Geh nicht. Bitte lass mich nicht alleine. Du hast mir doch damals, als wir Dad verloren haben, versprochen, dass du immer an meiner Seite bleiben wirst. Halte dich an dein Versprechen, Mom! Bitte wach auf. Lass uns wieder nach Hause. Der Tod passt nicht zu dir. Du.. Du kannst nicht einfach so sterben und mich zurücklassen! Ich brauche dich doch..", schluchze ich, lege meinen Kopf auf den Sarg und streiche mit einer Hand weiterhin über das kalte Holz. "..Lass mich nicht alleine. Was soll ich ohne dich tun? Erst Dad und jetzt auch du? Warum, Mom? Bitte wach auf. Komm schon..-"
"Grace, komm bitte", höre ich Sara hinter mir schluchzen. Sie packt mich am Arm, doch ich befreie mich wieder direkt von ihrem Griff.
"Nein! Nein, ich lasse sie nicht einfach so gehen. Ich kann sie nicht gehen lassen", schluchze ich und drücke einen Kuss auf den kalten Sarg. Im selben Moment spüre ich eine Hand auf meiner Schulter.
"Grace, du musst loslassen. Sie ist bestimmt wieder glücklich, da wo sie jetzt ist. Mach deine Mutter stolz und bleibe stark. Deine Tränen will sie bestimmt nicht sehen. Mach sie nicht traurig. Komm", höre ich Alex hinter mir sagen. Er hält mich am Arm, zieht mich langsam vom Sarg weg und ich lasse es geschehen, denn die Kraft zum Widerstand habe ich nicht mehr. Meine Blicke sind nur auf den Sarg vor mir gerichtet, welcher nun langsam in das Grab gelassen wird. Bei dem Anblick schmerzt mir meine Seele und um mich herum nehme ich nichts mehr wahr. Es scheint alles wie in einem Zeitraffer zu vergehen, bis schließlich die Beerdigung um ist und nach und nach alle verschwinden. Nur noch Alex, Sara und Lora stehen weiterhin an meiner Seite.
"Grace, wir sollten auch gehen", gibt Sara leise von sich.
Sofort schüttle ich meinen Kopf.
"I..Ich kann nicht. Dann wäre sie ganz alleine hier", stottere ich, während eine weitere Träne mir über die Wange läuft. Mit zitternden Beinen nähere ich mich ihrem Grab, während das große Bild von ihr daneben mich zu beobachten scheint.

StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt