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Ein weiterer Regentropfen landet auf der Fensterscheibe und rollt langsam nach unten, bis sie durch die Geschwindigkeit des Autos ihre eigentliche Form verliert. Sie hinterlässt, wie all die anderen vor ihr auch, nur noch ihre Spur, an der man erkennen kann, dass sie da war. Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe und beobachte die vorbeiziehenden Bäume. Versuche den Sturm in mir zu dämpfen. Die Gedanken unter Kontrolle zu bekommen, um nicht jeden Moment in Tränen auszubrechen. Vor allem aber treffen mich die Erinnerungen, die sich vor meinen Augen abspielen.
"Grace, sieh dir das mal an! Oh mein Gott, mein Herz.. Es ist so schön", höre ich Sara hinter mir sagen, bleibe stehen und laufe heute schon zum gefühlt hundertsten mal wieder zurück. Warum auch immer war ich einverstanden mit dem Shoppen, obwohl ich weiß, wie Sara dabei zum wahren Monster mutiert. An jeder Scheibe bleibt sie kleben, kriegt ihre Freude nicht in den Griff und will sich alles kaufen, was sie sieht. Dann geht man mit ihr rein und verbraucht eine ganze weitere Stunde in diesem Geschäft, nur um am Ende zu erfahren, dass sie es doch nicht so toll findet. Eine reine Qual für die Füße und die Seele.
"Schon wieder ein Kleid? Sara, langsam reicht es doch, oder? Du hast doch schon welche gekauft und außerdem verpassen wir dann den Bus", seufze ich frustriert, als sie ihre blauen Augen auf mich richtet und mit mich ihrem Welpenblick ansieht, um mich zu überreden.
"Aber so eins habe ich noch gar nicht gesehen. Es ist so schön und so eins habe nicht. Wenn ich jetzt gehen würde, wäre es bestimmt ausverkauft und mein Herz könnte das nicht ertragen. Ich würde depressiv werden", argumentiert sie hoffnungsvoll und legt ihre Hand auf die Scheibe, an der eine Puppe das rote Kleid trägt.
"Übertreib mal nicht. Es ist nur ein Kleid..-"
"Aber das hier ist etwas besonderes! Es ist ein wahrer Traum und ich möchte es so gerne haben", seufzt sie enttäuscht und schließlich gebe ich nach.
"Gut, gehen wir mal rein. Wenn wir den Bus aber verpassen sollten, bist du daran Schuld!"
Mit einem breiten Grinsen fällt sie mir um den Hals und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Auch mir zaubert sie damit ein Schmunzeln über die Lippen, obwohl ich meinen Kopf eigentlich gegen die nächste Wand schlagen könnte, weil ich schon wieder nachgegeben habe.
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und der Druck auf meinem Brustkorb nimmt zu, welches mir das Atmen wirklich erschwert.
"Wie? Du hast dir nur ein Salat bestellt?", frage ich sie verwirrt und nehme vor ihr Platz.
"Ich bin auf Diät, Grace", gibt sie mit einem stolzen Blick von sich.
"Warum McDonald's, wenn du nur Salat bestellen wolltest? Wirst du damit überhaupt satt?"
"Salat schmeckt auch gut und natürlich werde ich damit satt. Wenn ich deinen Stoffwechsel hätte, würde ich auch alles essen. Ich kann an einer Tafel Schokolade nur vorbeilaufen und würde direkt zunehmen", erwidert sie und öffnet ihre kleine Salatbox.
"Ach, komm. Du hast eine Top Figur und brauchst nicht mal eine Diät."
Auch ich packe den Burger und die Pommes aus und nehme einen Schluck von meinem Sprite.
"Ich habe vier Kilo zugenommen. Vier! Das kann so nicht weitergehen."
"Du hast einfach nur Komplexe", seufze ich und konzentriere mich auf mein Essen. Wie ich es auch schon kommen gesehen habe, ist sie nach fünf Minuten mit ihrem Salat fertig und nicht mal annähernd satt, was sie aber nicht zugeben möchte. Deshalb habe ich bewusst von Anfang an mehr bestellt, da ich weiß, wie es wieder enden wird.
"Hau rein", seufze ich und schiebe mein Tablet in die Mitte des Tisches.
"Nein, ich bin auf Diät. Ich darf nicht."
"Wie du meinst", gebe ich grinsend von mir und beiße in meinen Burger rein. Einige Minuten weigert sie sich hartnäckig dagegen, doch am Ende gibt sie ihrem Verlangen nach und isst mit. Das Grinsen auf meinen Lippen entgeht ihr natürlich nicht, doch sie versucht es zu ignorieren.
"Morgen. Morgen beginne ich wirklich mit der Diät und auch Sport. Wirst du sehen. Ab morgen gibt es nicht mehr Fast Food und Cola trinken", meint sie stur und beißt in ihren Burger.
Morgen.. Der Tag, der einfach nie kommen wird bei ihr.

Eine Träne rollt mir über die Wange, die ich aber direkt wieder wegwische. Ich will nicht heulen.
"Warum so plötzlich ins Ausland?", fragt Danny, der auf dem Beifahrersitz sitzt, in einem ruhigen Ton.
"Ich verstehe es auch nicht. Glaub mir, wenn ich das nur wüsste", antwortet Alex traurig, woraufhin ich meine Blicke senke.
"I..Ich.. Ich habe mich verliebt, aber ich darf das nicht. Nicht in diese Person, denn das ist falsch. Ich versuche immer wieder ihn zu vergessen, doch es geht nicht. Sobald er vor mir steht, bricht alles wieder zusammen. Ich bin einfach unmöglich. Es tut mir so Leid, Grace."
Ich weiß nicht, was besser ist. Den Grund zu wissen oder nicht? Der Schmerz ist dennoch da. Wenn nicht sogar größer, wenn man weiß, für wen und warum sie wahrscheinlich gehen will. Es tut einfach nur weh.
"Sie hat mich heute früh morgens plötzlich angerufen und mir mitgeteilt euch abzuholen und zum Flughafen zu kommen. Ihre Stimme klang schrecklich dabei und als ich total verwirrt gefragt habe, was das soll, hat sie mir nur gesagt, dass sie das Land verlassen wird und uns vorher noch einmal sehen möchte. Dann hat sie einfach aufgelegt und egal wie oft ich sie auch angerufen habe, sie ging nicht ran..", erklärt er uns nachdenklich und schlägt mit seiner Faust auf das Lenkrad. "..Was denkt sie sich denn dabei? Einfach so das Land zu verlassen und uns an dem Tag erst davon zu erzählen? Ich verstehe sie einfach nicht. Warum will sie gehen?"
"Beruhige dich. Wir werden gleich sehen, was sie dazu sagen wird", redet ihm Danny ein, doch er schüttelt den Kopf.
"Du verstehst es nicht, Kumpel. Sara gehört zu uns.. Wir alle gehören zusammen. Wir sind wie eine Familie und sind zusammen aufgewachsen. Da kann man nicht einfach so das Land verlassen und uns erst heute davon berichten. Das macht man nicht. Das haben wir nicht verdient", erwidert Alex zornig, woraufhin Danny nichts mehr sagen kann. Eine Stille umhüllt die Atmosphäre, bis ich diese breche.
"Wo will sie denn hin?", frage ich leise und meine Stimme zittert dabei.
"Nach Australien..", antwortet Alex, während er dabei den Kopf lachend schüttelt. Es ist aber kein amüsiertes, sondern die Art von Lache, die man von sich gibt, um nicht zu weinen. "..Australien.. Wenn ich wieder daran denke, kriege ich direkt so einen Hals."
"Sie wird schon ihre Gründe haben", meint Danny ruhig und die gewohnte Stille kehrt wieder zurück, in der unsere Gedanken wieder lauter werden. Der Sturm breitet sich immer weiter in mir aus und bedrückt mich. Ich bin nicht einmal sicher, ob es Schuldgefühle sind oder nicht. Wenn sie es mir zuliebe macht und es eigentlich nicht will, würde ich das nicht verkraften können. Alles, aber nur nicht das.

StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt