Dass auch mein letzter Tag auf Hogwarts einmal kommen musste, war mir von vornehinein klar gewesen. Doch ich hätte mir niemals träumen lassen, dass mir der Abschied von diesen geliebten alten Steinmauern so schwer fallen würde. Wir hatten schon seit dem Beenden der UTZ-Prüfungen im Mai keinen richtigen Unterricht mehr gehabt, vielmehr hatte man uns auf die Zeit nach Hogwarts vorbereitet und trotzdem war der Abschied so schmerzhaft, als würde sich eine große, eiskalte Klaue um mein Herz schließen und dieses qualvoll zerdrücken.
Die Vorstellung, Hogwarts für immer verlassen zu müssen, und nie wieder als ein Schüler dieses Schlosses durch die Korridore zu schlendern, in der Bibliothek über den dicken Wälzern zu brüten oder im Gemeinschaftsraum Butterbier zu trinken und über James' und Sirius' alberne Witze zu lachen war so schrecklich, dass ich gar nicht daran denken wollte. Oder die Nächte oben im Mädchenschlafsaal mit Mary und Marlene, in denen wir kichernd und giggelnd unter den scharlachroten Decken lagen und uns ausmalten, wie wir Alice mit Frank Longbottom verkuppeln konnten, oder wie wir es anstellten, dass Professor Slughorn uns etwas von seinem Vorrat an Felix Felicis borgte, damit wir-
Mit einem scheppernden Geräusch fiel das alte Spickoskop, das ich in den Händen gehalten hatte, zu Boden. Bücher, Umhänge, Socken und Federkiele lagen zerstreut um den großen Schrankkoffer herum verteilt. Und ich saß mitten in diesem Durcheinander. Mit zitternden Händen klaubte ich das heruntergefallene Spickoskop vom Boden auf und warf es in den bereits halb gefüllten Koffer.
Gerade war ich dabei ein weiteres Paar geblümte Socken von einem der Haufen zu zupfen und sie zusammenzufalten, als Mary den Kopf durch die Tür steckte. Das schokoladenbraune Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie mit besorgter Miene, die Tür zum Mädchenschlafsaal aufdrückte.
„Alles okay bei dir, Lily?", fragte sie und warf sich eben jenes dunkle Haar über die Schulter.
Ich blickte von den geblümten Socken in meiner Hand zu ihr und wieder zurück. „Jaah", sagte ich gedehnt, „ich denke es geht schon. Irgendwie müssen wir ja alle dadurch. Ich hätte nur nicht gedacht, dass mir der Abschied derartig schwer fallen würde." Jetzt begannen meine Augen wieder zu brennen und ich starrte mit wachsendem Interesse die klauenartigen Beine von Alice' Nachttischchen an.
Mary schob nun auch ihren Körper durch die halb geöffnete Tür, der in einem grellleuchtenden orangefarbenen Overall steckte, der über und über mit weißen Gänseblümchen verziert war. Sie schob den einen leeren Eulenkäfig beiseite und ließ sich neben mir auf den Boden fallen. Ich warf das gefaltete Sockenpaar in den Koffer und wandte mich dem schrecklichen grün-orange gestreiften Pullover zu, den mir meine Mutter zu Weihnachten geschenkt hatte.
War es wirklich schon so lange her, seit ich mit James zurück nach Cokeworth gefahren war, um dort die Weihnachtsferien bei meiner chaotischen Familie zu verbringen?
Seufzend begann ich den Pullover zusammenzufalten und blickte dabei partout in eine andere Richtung. Doch Mary war nicht umsonst seit beinahe sechseinhalb Jahren meine beste Freundin. Noch immer mit einer leichten Sorgenfalte zwischen den dunklen, geschwungenen Augenbrauen nahm sie mir den Pullover sanft ab und legte ihre Hände behutsam auf meine Schultern, sodass ich mich zu ihr umdrehen musste.
„Lilylein, nicht weinen", sagte sie und musste nun selber mit den Tränen kämpfen. „Wir kommen sicher wieder hierher zurück. Spätestens wenn wir alle mit unseren Kindern am Bahngleis in King's Cross stehen und während unsere Männer ihnen nachwinken schleichen wir uns einfach in den Zug und verstecken uns so lange zwischen dem Gepäck, bis wir wieder in Hogwarts sind. Und wenn James dann bemerkt, dass du fehlst sind wir schon längst wieder hier und sitzen in McGonagalls Büro, essen Ingwerkekse und lachen über die alten Zeiten, in denen wir selber noch zur Schule gegangen sind. Na, wie klingt das?"
Mit einem aufmunternden Lächeln beugte sie sich zu mir herab und wischte mir mit dem Zeigefinger eine einzelne Träne von der Wange. „K-Klingt gut", schniefte ich.
„Und dann erzählen wir dem alten Sluggy mal, was aus dir geworden ist." Sie grinste. „Der wird sich wundern, wenn er erfährt, dass du gar nichts mit Zaubertränke machen willst." Ich lächelte unter Tränen. „Wenn der wüsste, dass du die Hälfte deines Wissens von Snape hast, dann-" Sie brach ab und sah erschrocken zu mir herüber.
Ich winkte lächelnd ab. „Schon gut, Mary, ich bin zwar nicht mehr mit Severus befreundet, aber das heißt noch lange nicht, dass sein Name ab sofort tabu ist. Solange du ihn nur nicht James unter die Nase reibst, ist alles in bester Ordnung. Er geht seinen Weg und ich gehe meinen."
Mit resoluter Entschlossenheit warf ich den mehr oder weniger ungefalteten Ringel-Pullover in den Koffer und schob gleich einen Stapel Bücher hinterher. „Um ehrlich zu sein, ist es doch wunderbar, melancholisch, ja, aber wunderbar. Es beginnt eine neue Zeit für uns, Mary, und wir sind mittendrin." Ich lächelte leicht.
„Schon..." Mary nestelte nervös an dem Einband von „Große Errungenschaften der Zauberkunst herum" und sah mich dann an. „Du wirst mich aber doch dann nicht vergessen, oder Lily? Wenn du und James..." Ihre Stimme verlor sich.
„Du Dumpfbirne." Ich schlang meine Arme um ihren Hals und bettete meinen Kopf auf ihre wilden Locken. „Du wirst immer meine beste Freundin bleiben. Ich könnte dich niemals vergessen, wo denkst du hin?"
Sie löste sich von mir und ein Grinsen breitete sich auf ihren Zügen auf und ihre Augen leuchteten beinahe golden. „Du auch", sagte sie. „Du wirst auch immer meine beste Freundin bleiben, Lily."
Ich klaubte den Rest meiner Sachen zusammen und warf sie achtlos in den großen braunen Koffer vor mir, dann zog ich Mary das Zauberkunstbuch aus den Armen und quetschte es in den ohnehin schon überfüllten Rucksack an meinem Bettende. Mary hob spöttisch eine Braue. „Du nimmst dein Schulbuch mit in dein Handgepäck?"
Beschieden strich ich über den dunkelblauen Einband des Buches. „Nur etwas leichte Lektüre für die Zugfahrt." Ich verschloss den Rucksack.
„Du spinnst doch total, Lily." Lachend erhob sich Mary vom Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Pfosten meines ehemaligen Himmelbettes.
Ich zuckte mit den Schultern und stand auf. „Dann habe ich wenigstens einen Teil von Hogwarts auf dem Weg nach Hause bei mir."
Marys Augen wurden groß. „Du hast das Buch mitgehen lassen?"
Schuldbewusste reckte ich das Kinn in die Höhe und schob den Rucksack mit der Fußspitze etwas weiter unters Bett.
„Lily!" Mary grinste. „Madam Pince schlägt uns die Köpfe ein, wenn sie bemerkt, dass eines ihrer heiligen Bücher fehlt."
Ich zuckte erneut mit den Schultern. „Soll sie doch. Aber spätestens wenn sie es merkt, sitzen wir schon im Zug zurück nach London."
„Du bist wirklich verdreht, Lily, aber das warst du ja schon immer." Mary legte einen braungebrannten Arm um meine blassen Schultern und zog mich Richtung Tür. „Kommst du mit zu den Jungs? Sie warten schon auf uns." Ich nickte und schlug den Koffendeckel mit einem Fuß zu. „Ich komme", rief ich, doch Mary war schon die Treppe zum Gemeinschaftsraum heruntergepoltert.
Ich war einen letzten Blick in den vertrauten Raum. Alles wirkte so normal wie immer. Die fünf riesigen Himmelbetten mit den dunkelroten Bettbezügen, der Heizofen in der Mitte des Raumes, die Öllampen auf den Nachttischen, die Bücher am Fußende meines Bettes... Es sah aus, als wenn wir uns heute Abend einfach wieder auf die Betten werfen würden, kichernd und quatschend, wie all die Jahre zuvor und am nächsten Morgen aufwachen würden, um einen weiteren normalen Tag in diesen Mauern zu verbringen. Und doch sah man, dass es nicht so sein würde.
Vor jedem der fünf Betten stand ein riesiger Schrankkoffer. Ich war die Letzte gewesen, die ihren Koffer gepackt hatte. Doch nun war auch mein Koffer gepackt und fest verschossen und alles war bereit zur Abreise. Dies würde die letzte Nacht in dem vertrauten Schlafsaal sein. Ich ließ den Blick ein letztes Mal durch den geliebten Raum schweifen und schloss dann mit einem leisen Seufzer die Tür hinter mir.
Hinter mir hörte ich, wie meine Freunde meinen Namen riefen. „Ich komme", rief ich mit etwas brüchiger Stimme und atmete tief durch. Dann drehte ich mich um und rannte mit wehendem dunkelrotem Haar die Treppe zum Gemeinschaftsraum hinunter.
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Du gefällst mir, wenn du so wütend bist, Evans!
FanfictionRumtreiberzeit. Eigentlich hätte Lily Evans' Abschlussjahr als Schulsprecherin glänzend beginnen können, wäre da nicht ein gewisser jemand mit zerstrubbeltem schwarzem Haar und haselnussbraunen Augen gewesen. Der Schulstress, die Rumtreiber und auch...