Eine neue Zeit

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Es war Juli. Die Dämmerung war längst hereingebrochen und der Himmel über unseren Köpfen hatte sich mitternachtsblau gefärbt. Doch wir saßen um ein prasselndes Feuer herum, tranken Butterbier und genossen den letzten Abend in Hogwarts. Der schwarze See schimmerte durch die Blätter des Verbotenen Waldes hindurch und der Anblick des, in der Nacht daliegenden, Schlossgeländes stimmte mich seltsam melancholisch.
„Wisst ihr, was ich mir manchmal vorstelle?", sagte ich leise. „Dass man eine so schöne Zeit einfach in ein Marmeladenglas stecken könnte. Und wenn man unglücklich ist, dreht man einfach den Deckel auf und schnuppert ein bisschen daran."
Marlene verdrehte die Augen, aber James lächelte.
„Lily, du hast wirklich Ideen. Du kannst dir doch jederzeit ein Denkarium besorgen oder so", sagte Mary lachend und schüttelte den Kopf, sodass ihre dunklen Locken nur so wippten.
„Das ist aber nicht das Gleiche", sagte ich schmollend, aber grinste.
„Wir trennen uns ja nicht gleich", sagte Mary beschwichtigend und knuffte mich in die Seite. Sirius warf ihr einen amüsierten Blick zu und legte ihr einen Arm um die Schultern, nur um ihren Mund eine Sekunde später zu sich herabzuziehen und ihr einen sanften Kuss auf die geschwungenen Lippen zu drücken.
James sah mich an und wieder erstrahlte in seinen wunderbaren haselnussbraunen Augen dieses goldene Glühen, welches mich von Anfang an in seinen Bann gezogen hatte. Seine Stimme war merkwürdig rau und ein wenig heiser, als er sich zu mir herüberbeugte und ganz dicht an meinem Ohr flüsterte: „Wer weiß, vielleicht kommt die beste Zeit ja erst nach Hogwarts..." Seine kurzen Bartstoppeln kratzten leicht über meine Haut, als er mir einen Kuss auf die Wange drückte und seine Nase in meinem dichten Haar vergrub.
Ich erschauderte leicht. „Amortentia", murmelte er so leise, dass ich meinte, mich verhört zu haben, aber der Hauch dieses einen Wortes hing noch an seinen Lippen, als ich meine eignen, leicht zitternden auf die seinen drückte – warm und vertraut. „Vielleicht hast du Recht", murmelte ich in den Kuss hinein, „und die beste Zeit liegt noch vor uns." Mein Herz schlug furchtbar schnell in diesem Moment, aber er hielt nicht allzu lange an, denn schon hatte sich Sirius auf seinen besten Freund gestürzt und James' Lippen lösten sich mit einem leisen Schmatzen von den meinen. Ich lachte und schlug ein wenig peinlich berührt die Hand vor den Mund.
„Sirius", rief ich mit meiner besten Schulsprecher- und Autoritätsstimme, die ich aufbringen konnte. „Lass das!"
Doch schon hatte sich besagter unverschämt grinsender und zum Teufel nochmal gutaussehender Herzensbrecher eine neue Flasche Butterbier entkorkt, sich umgedreht und sein Augenmerk wieder auf Mary gerichtet. Tss, es war zum Haare ausreißen mit Black. Wie hielt Mary es nur beinahe vierundzwanzig Stunden am Tag mit ihm aus?
Na schön, ich verbrachte ja auch kaum weniger Zeit mit ihm. Außerdem konnte man Sirius nie lange böse sein, wegen so etwas schon gar nicht. Und überhaupt... Ich nahm einen Schluck Butterbier und starrte in immer kleiner werdenden Flammen des Lagerfeuers. Die Flammen tanzten und die Stämme und Äste der umstehenden Bäume des Verbotenen Waldes warfen gespenstige Schatten in das schummrige Licht der Glut.
Ich kuschelte mich enger an James und bettete meinen Kopf in seinen Schoss. Wie von selbst fuhren seine Finger immer wieder sanft durch mein Haar, während er selbst leise mit Remus sprach und ab und zu einen Schluck aus seiner Flasche nahm. Marlene summte leise eines der Lieder von Celestina Warbecks neuer Platte und rupfte beiläufig und scheinbar ganz in Gedanken versunken ein Büschel Gras nach dem anderen aus. Sie saß im Schneidersitz ganz nah am fast abgebrannten Feuer und rupfte und rupfte bis die Stellen im Gras um sie herum ganz kahl waren.
Mary saß ein wenig entfernt aus Sirius' Schoss und ihre Lippen schienen sich nicht einen Moment voneinander zu lösen, nur Marys glockenhelles Lachen drang ab und zu an meine Ohren. Ich verwebte meine Finger mit denen von James und er lächelte flüchtig zu mir herab, bevor er sich wieder Remus zuwandte. Meine Augenlider wurden immer schwerer und schließlich versank ich in vollkommener Schwärze.

So sehr ich mich auch davor sträubte, dem Tag ins Auge zu sehen, an dem unsere Hogwartszeit endgültig vorbei war, so musste auch ich mir am nächsten Morgen seufzend eingestehen, dass diese Tatsache nicht mehr zu leugnen war. Hell und klar brach jener Sommermorgen an und die Luft war erfüllt vom fröhlichen Gezwitscher der Vögel und um uns herum summte und brummte es.
Der Himmel war strahlendblau, keine einzige Wolke war zu erkennen und man merkte sogleich, dass heute ein brennendheißer Tag werden würde. Als ich mich leise aufrichtete und einen Blick auf James warf, der neben mir im Gras lag, den Kopf halb unter der aus dem Schlafsaal ausgeborgten scharlachroten Decke versteckt, wurde mir zum ersten Mal in diesen letzten Tagen bewusst, dass sich auch unsere Wege fürs erste trennen würden. Ich würde nach Cokeworth zurück zu meinen Eltern und Petunia kehren und den Sommer mit ihnen verbringen und James würde ebenfalls nach Hause fahren.
Bei dem Gedanken daran, dass wir uns eine Zeit lang nicht sehen würden zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Ich hatte mich mit der Zeit immer mehr an James' Anwesenheit gewöhnt und auch, dass die anderen Rumtreiber und meine beiden besten Freundinnen stets um mich herum waren, war zu etwas Alltäglichem geworden.
Doch jetzt lag Mary in den Armen von Sirius und schlief seelenruhig, den Kopf an seine Brust gepresst. Und Marlene? Mein Blick glitt über ihr schlafendes Gesicht. Sie würde mit ihren Eltern für drei Wochen nach Brighton fahren, ans Meer. Das war Tradition in der Familie McKinnon. Jeden Sommer, aber wirklich jeden, reisten sie an den genau gleichen Ort und verbrachten genau zwei Wochen in demselben Haus, wie auch all die Jahre zuvor und Marlene war gezwungen ihre Eltern zu begleiten. Sie brachte es nicht übers Herz, ihrem Vater zu widersprechen und vorzuschlagen, diesen Sommer doch mal einen anderen Ort als Urlaubsziel zu wählen.
Immerhin fuhr sie wenigstens ans Meer, während ich die ersten Wochen erstmal zu Haus festsaß. Und keiner meiner Freunde wohnte in meiner Nähe, nicht mal Alice oder Emmeline Vance aus meinem Schlafsaal. Da war immer nur Severus gewesen. Jeden Sommer. Jeden Sommer, außer dem letzten. Und diesem.
Ich erhob mich leise und zog mir James Pullover über, der über einem der umgekippten Baumstämme hing, die uns gestern als Sitzmöglichkeit um das Feuer herum gedient hatten. Ich ließ mich ins Gras sinken, den Blick ununterbrochen auf den Horizont über dem Wasser gerichtet. Der Riesenkraken zeigte sich einmal kurz, doch dann begab er sich wieder in die schlammigen, grünen Tiefen des Sees hinab. Ich beobachtete, wie die Sonne blutrot am Horizont aufstieg und die Welt in warmes goldenes Licht tauchte.
Eigentlich hätten der letzte Abend und noch dazu dieser atemberaubende Sonnenaufgang ein gebürtiger Abschied sein sollen, doch ich brachte kein Lächeln zustande. Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, den Blick unablässig auf das rot-goldene Farbenspiel vor mir gerichtet. Allmählich merkte ich, wie die anderen begannen, aufzuwachen.
Rasch wischte ich mir mit dem Ärmel die restlichen Tränen aus dem Gesicht und schloss mich den anderen an, die damit begannen, die Sachen zusammenzuräumen und sich angeregt und gut gelaunt zu unterhalten. Ich half Remus beim Falten der riesigen Decken und Mary beim Aufsammeln der leeren Butterbierflaschen, doch auch diese Aufgaben brachten mir keine Ablenkung entgegen.
Um neun Uhr machten wir uns auf den Weg zum Frühstück in die Große Halle. Die Mauern Hogwarts' schienen mir all die Geschichten der vergangenen Jahre zuzuflüstern, als ich in ein letztes Mal durch die Korridore des Schlosses wanderte. Dann war es soweit. Um elf Uhr standen wir auch schon alle zusammen mit den anderen Schüler und unseren gepackten Koffern am Bahnhof in Hogsmeade und stiegen in den roten Hogwartsexpress, der dampfend Rauch über die Köpfe der Schüler hinwegblies und sich schließlich langsam und ratternd in Bewegung setzte.
Alles ging viel zu schnell. Es kam mir vor, als hätten wir uns gerade erst auf den alten Sitzen niedergelassen, da fuhr der Zug auch schon in den lärmigen Bahnhof King's Cross ein. Ich konnte kaum glauben, dass nun die letzten Sommerferien meines Lebens begonnen hatten und ich Hogwarts nie wieder als Schülerin dieser Schule betreten würde.
Die winkenden Eltern auf dem belebten Bahnsteig lachten und schlossen ihre Kinder in die Arme. Meine Eltern würden vermutlich irgendwo draußen auf mich warten. Mein Vater hasste Menschenmengen und ich konnte es ihm nicht verübeln. Ich wurde von einigen ein letztes Mal stürmisch umarmt, andere winkten mir strahlend zu, wiederum andere riefen mir Worte wie „Wir sehen uns, Lily" oder „Bis bald, Evans" zu. Mein Blick glitt durch die Massen der Schüler und schließlich schloss ich meine Arme um Alice und drückte sie zum Abschied. „Wir schreiben, ja?", fragte sie und stupste mir an die Nase.
„Klar", sagte ich und lächelte kurz.
„Das wird schon, Lils", murmelte sie mir zu und zog mich in eine letzte Umarmung. „Mary hat schon das nächste Treffen für August geplant. Du kommst doch, oder?"
„Aber natürlich, Alice", sagte ich und grinste.
„Ich muss los", sagte sie. „Frank will mich seinen Eltern vorstellen!"
Sie kicherte, winkte und verschwand dann mit Frank Longbottom in der Menge der schnatternden, giggelnden und lachenden Schüler.

Dieser Sommer würde furchtbar lang werden ohne James, aber zum Glück gab es ja noch die Briefe. Jeden Tag würde er mir schreiben, das hatte er mir versprochen. Vielleicht konnte ich meine Eltern ja überreden, mich früher, als geplant mit ihm zu treffen. Gut, dass wir den Apparierkurs im letzten Jahr alle mit Bravour gemeistert hatten.
Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, als sich James' warme, große Hand um die meine schloss. Ich begegnete Marys strahlendem Blick aus schokoladenbraunen Augen und Marlenes verschmitztem Grinsen auf den vollen Lippen. Und Sirius' warmen Augen, die mir kurz zuzwinkerten und Remus' mattem, liebevollem Lächeln. Ich atmete tief durch. Das Leben war einfach und klar. Ein letztes Mal warf ich einen Blick zurück auf den Hogwartsexpress, dann drückte ich James' Hand noch fester, wie um mich zu vergewissern, dass er noch da war und er erwiderte meinen Händedruck sanft und vertraut. Und gemeinsam schritten wir zurück durch das Tor in die Muggelwelt.

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Aww, die Hogwartszeit ist vorbei für unsere Rumteiber und co und Lily fällt der Abschied besonders schwer. Hinterlasst mir unbedingt ein Review und lasst mich wissen, wie euch das Kapitel gefallen hat :) Und auch danke für eure bisherige Unterstützung!
Der Epilog folgt dann bald :) Ein bisschen müsst ihr euch noch gedulden ;)

PS: Das Zitat mit den „Marmeladenglasmomenten" stammt aus den Wilde-Hühner-Büchern von Cornelia Funke (als Kind und junger Teenie sehr von mir geliebt), um das mal als Quelle zu kennzeichnen ;) Nicht, dass sich noch jemand beschwert, haha :D

Du gefällst mir, wenn du so wütend bist, Evans!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt