Ein ganz normaler Schultag

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Es war ein schöner Spätsommertag, an dem die Sonne noch einmal in ihrer ganzen Pracht erstrahlte und ihr Licht über die Landschaft unter ihr ergoss. Dazu wehte nur ein lauer Wind über die Ländereien von Hogwarts, der die Schüler scharenweise aus dem Schulgebäude herauslockte, um den Tag zu genießen. Dieser Tag war eines der letzten Zeichen des Sommers, der schon beinahe vom Herbst verdrängt worden war. Daher schienen auch besonders viele Schüler den Weg nach draußen gefunden zu haben und tummelten sich auf dem weitläufigen Schulgelände, um in Ruhe im Schatten eines Baumes zu lesen oder zu lernen oder auf dem Gelände herumzutollen, wie es ihnen beliebte.
Da machten auch vier bestimmte Schüler keinen Unterschied, die um einen großen Baum versammelt saßen, der am Ufer des schwarzen Sees stand und dessen Geäst sich weit über selbigen hinaus erstreckte. Zwei der vier Jungen veranstalteten eine Art Wettbewerb, wer von ihnen Steine weiter über den See werfen konnte und das sowohl mit als auch ohne Zauberei. Dabei wechselten sie sich immer damit ab, die Steine mit den Armen oder mithilfe ihrer Zauberstäbe über das Wasser zu werfen.
Im Moment hatte der Junge mit den langen, dunklen Haaren die Oberhand. Die Haare hingen ihm in die Augen, was seine Sicht allerdings nicht im Geringsten zu beeinträchtigen schien. Sie waren beinahe schulterlang und folgten jeder seiner Kopfbewegungen mit einer verwegenen Eleganz, wie sie nicht viele männliche Personen innehatten. Sein Gesicht war äußerst attraktiv, wie auch seine ganze Gestalt einen selbstbewussten und rebellischen Eindruck von der Art machte, die anziehend auf viele Mädchen wirkte. Es war daher auch anzunehmen, dass die sehnsüchtigen Blicke aus der Mädchengruppe, die etwas weiter entfernt saß, ihm galten.
Der andere Junge schickte sich gerade an, mithilfe seines Zauberstabs einen weiteren Stein über das Wasser zu jagen. Er hatte zwar ebenso dunkle Haare wie sein Freund, wenn nicht noch dunklere, die jedoch in alle Richtungen ab standen und eigentlich mit keinem anderen Ausdruck als „unmöglich" zu bezeichnen waren. Hinzu kam, dass der Junge mit seiner Hand alle zehn Minuten wieder durch seine Haare fuhr, um sie erneut und noch schlimmer durcheinanderzubringen. In seinem schmalen Gesicht mit den haselnussbraunen Augen saß eine drahtige schwarze Brille, die gerade, als er seinen Zauberstab in einem übertrieben weiten Schlenker schwang und damit den von ihm fixierten Stein einige Meilen weit über den See beförderte, um einige Zentimeter verrutschte. Als sein Stein weit entfernt mehrere Male auf dem Wasser auftitschte und erst nach scheinbar einer Ewigkeit in einer beeindruckenden Entfernung versank, fing ein weiterer Junge übertrieben laut und hastig an zu klatschen. Er hatte schon die ganze Zeit bei dem Wettkampf zugesehen, wobei er mit Ehrfurcht zu den beiden Schützen aufblickte. Er war etwas kleiner als seine Freunde und ein wenig untersetzt. Sein Haar war mausbraun und lag flach an seinem Kopf an, während seine spitze Nase als erkennbarer Kontrast aus seinem ein wenig pausbäckigen Gesicht herausstach. Er starrte mit beinahe schon abgöttischer Verehrung zu den beiden Schützen auf, als der Junge mit dem verwuschelten Haar seine verrutschte Brille wieder geraderückte.
„Astreiner Wurf, Krone!", rief der gutaussehende Junge vergnügt, während der kleine Junge bestätigend nickte.
„Danke, Tatze! Ob du da noch mithalten kannst?", erwiderte der bebrillte Schütze.
„Du wirst dich wundern!" meinte sein Freund, als sich von dem Baum hinter den beiden eine weitere Stimme vernehmen ließ: „Euch ist doch hoffentlich bewusst, dass die Wassermenschen es nicht gern haben, wenn man den See aufwühlt. Was werdet ihr tun, wenn gleich eine Horde wütender Wassermenschen aus dem See steigt und euch beide hinunter auf den Grund des Sees zieht, wo ihr jämmerlich ertrinken müsst?"
Die Stimme gehörte dem vierten der Jungen, der hinter seinen drei Freunden an den Baumstamm gelehnt saß und ein aufgeschlagenes Buch in der Hand hielt. Er hatte kurzes hellbraunes Haar und aufmerksame grüne Augen in einem an sich gutaussehenden, jedoch auch sehr blassen Gesicht. Er machte den Eindruck eines intelligenten und aufmerksamen Menschen, der jedoch gleichzeitig irgendeinen versteckten Kummer hatte. Auf seinem Zauberumhang prangte, wie bei den drei anderen, das Abzeichen des Hauses Gryffindor, auch wenn bei ihm noch ein silbriges Vertrauensschülerabzeichen daneben zu finden war.
Der Junge, der Tatze genannt wurde, lachte. „Ach was, Remus, mit solchen Wassermenschen nehmen James und ich es doch spielend auf, nicht wahr?" Dabei blickte er seinen Freund neben sich an.
Dieser stimmte zu: „Die sollen nur kommen! Außerdem sind wir ja nicht alleine, denn unsere beiden Freunde Moony und Wurmschwanz werden uns doch sicher nicht untätig von Wassermenschen verschleppen lassen!" Herausfordernd blickte er die beiden an.
Remus stand auf und lächelte. „Natürlich nicht. Peter und ich werden uns an den Rand des Sees stellen und euch nett zum Abschied winken, hab ich Recht, Peter?" Peter blickte erst zu Remus und dann zu James, bevor er vorsichtig sagte: „Vermutlich ja. Ich meine, wahrscheinlich. Höchstwahrscheinlich, ja. Ja. Ja!" Dabei war er aufgestanden und stand nun neben Remus.
„Ihr habt's gehört!" grinste Remus. „Das wird ein ruhmreiches Ende für James Potter und Sirius Black: Am Anfang ihres fünften Schuljahres in Hogwarts wurden sie, weil sie Steine auf den schwarzen See geworfen hatten, von wütenden Wassermenschen in den See gezerrt, wo sie bedauernswerterweise ertranken. Und dabei waren sie noch so jung!"
„Klingt doch gar nicht so schlecht!" erwiderte Sirius, nahm einen weiteren Stein und schleuderte ihn mit voller Wucht über die glänzende Wasseroberfläche.
„Tja, beschwert euch nicht, dass ich euch nicht gewarnt hätte.", meinte Remus und kehrte zu seinem Sitzplatz zurück, an dem noch sein Buch lag.
„Ach, Moony, so ein paar Wassermenschen sind doch ein Klacks für uns, schließlich laufen wir ab jetzt jede Nacht bei Vollmond mit einem leibhaftigen Werwolf umher!", sagte James zu seinem Freund, der sich sofort erschrocken umsah. Aber niemand war in der Nähe, der das hätte hören können.
„Nicht so laut!" zischte er. „Außerdem halte ich das immer noch für keine so gute Idee. Das hat vor zwei Wochen geklappt, aber vielleicht sieht es das nächste Mal schon wieder ganz anders aus! Ihr habt eure Animagus-Verwandlungen gerade erst gelernt und es ist nicht unwahrscheinlich, dass manchmal etwas schiefläuft. Was, wenn bei einem von euch die Verwandlung während unserer Streifzüge plötzlich aufhört? Dann seid ihr todgeweiht, weil ich sofort über euch herfallen werde!"
„Ja, da hat er nicht ganz unrecht.", meldete sich der kleine Peter zu Wort. „Und was ist, wenn wir in unseren Verwandlungen stecken bleiben? Ich will nicht für den Rest meines Lebens eine Ratte sein, ich könnte nicht einen Monat als Ratte aushalten!"
„Ihr seid beide viel zu ängstlich.", meinte Sirius, dessen Steinvorrat ausgegangen war. „Wir haben das vier Jahre lang kontinuierlich geübt und wir alle haben es doch geschafft! Wir sind jetzt beinahe so gut in Animagus-Verwandlungen wie Professor McGonagall. Wenn du nicht für Ewigkeiten eine Ratte sein willst, dann wirst du es auch nicht sein, Peter. Umgekehrt werden wir uns auch nicht wieder zurückverwandeln, wenn wir es nicht wollen. Und da Werwölfe Tieren nicht gefährlich werden können, sind wir absolut sicher, Remus!"
Nach Sirius' Worten wirkte Peter beruhigt, Remus allerdings schien es immer noch nicht zu sein. Da schaltete sich James ein: „Er hat vollkommen recht. Außerdem, denkt doch einmal daran, was wir alles entdecken können. Mit meinem Tarnumhang und unseren Verwandlungen können wir jeden Winkel von Hogwarts erforschen. Was ist mit der Karte, die wir erstellen wollen? Wir können uns überall hinschleichen und machen, was wir wollen. Wir sind die Rumtreiber! Komm schon, Moony, sei kein Spielverderber!"
Remus schnaubte. „Für euch mag das ein Spiel sein, aber für mich nicht! Es reicht doch schon, dass ich jede Vollmondnacht leide und Gefahr laufe, Menschen zu schaden, da sollen nicht auch noch meine besten Freunde mit hineingezogen werden. Wenn ihr mit mir während dieser Phasen zusammen seid, begebt ihr euch in riesige Gefahr.."
„Ja, das tun wir. Aber das tun wir für dich, Remus." sagte James. „Außerdem kennst du uns doch, wir scheuen uns sowieso nicht davor, Regeln zu brechen, egal welche. Als wir herausgefunden haben, was dein monatliches Verschwinden bedeutet, haben wir uns da von dir abgewandt? Nein, wir wollten dir helfen, indem wir dich bei deinen Ausflügen begleiten. Und das haben wir über drei Jahre lang geübt. Also, wir kennen das Risiko und nehmen es gerne auf uns. Ich meine, erwartest du wirklich von uns, dass wir nach so langem Üben einfach auf die Gelegenheit verzichten, unsere Verwandlungen auszuprobieren?"
„Genau!", bekräftigte auch Sirius. „Wir haben das alles nur für dich getan." Er stutzte kurz. „Nun gut, vielleicht auch ein wenig für uns... aber das ist ja egal. Wir bleiben auch in den schlimmsten Fällen zusammen. Wir, die Rumtreiber, werden das ganze Gelände von Hogwarts untersuchen und daran wirst du uns nicht hindern können, Moony. Wir werden es trotzdem machen, also kannst du auch gleich mitmachen."
Peter hatte sich zu James und Sirius gestellt und meinte: „Ja, Remus, wir werden das machen, ob du willst oder nicht!" Dabei klang er eigentlich selbstsicherer als er sich fühlte, da ihn der Gedanke an die nächtlichen Ausflüge noch immer ängstigte.
Remus blickte seine drei Freunde an und wusste, dass er geschlagen war. Er musste lächeln, obwohl er nicht wollte, angesichts der Freundschaftsbeweise, die die drei ihm hier darlegten. Er seufzte resigniert. „Na schön, ich kann es euch ja nicht ausreden." James, Sirius und Peter grinsten sich triumphierend an. „Die Idee mit der Karte ist ja gar nicht schlecht.", fuhr Remus fort.
„Ja, nicht wahr?", fragte James strahlend. „Das ist eine klasse Idee!" Er nahm eine übertrieben majestätische Pose ein und sagte mit noch übertriebenerer Hoheitsstimme: „Die hochwohlgeborenen Herren Moony, Tatze, Wurmschwanz und Krone präsentieren voller Stolz die Karte des Rumtreibers!" Peter fing sofort an, seinem Freund Beifall zu klatschen, während Sirius und Remus ihm bloß ein anerkennendes Lächeln schenkten.
Remus fragte allerdings gleich darauf: „Aber sind diese Spitznamen wirklich nötig?"
„Na klar!", erwiderte James. „So tarnen wir unsere Identitäten und außerdem sind die Namen schön an unsere jeweiligen Tiergestalten angepasst!"
„Aber Moony?" fragte Remus zweifelhaft.
„Wir hätten auch noch Wolfy zu vergeben.", meinte Sirius. „Oder Wildy. Oder Bity. Oder - was mein Favorit wäre - Wolfindor!"
Remus blickte seinen Freund eine Weile an, bevor er fragte: „Wolfindor?"
„Ja!", erwiderte Sirius todernst. „Das ist eine Mischung aus Wolf und Gryffindor. Wir könnten aber auch Gryffolf nehmen, wenn dir das lieber wäre."
„Wisst ihr was? Moony klingt doch gar nicht so übel.", meinte Remus, woraufhin Sirius so tat, als wäre er aufs Bitterste beleidigt worden.
James jedoch grinste und nickte. „Gut, dann wäre das geklärt. Sonst noch jemand, der mit seinem Spitznamen unzufrieden ist?" Er blickte sich um, aber Sirius war immer noch damit beschäftigt, enttäuschte Grimassen zu ziehen und Peter öffnete zwar den Mund, schloss ihn aber im nächsten Moment wieder. „Gut.", meinte James und warf einen Blick hinüber zu der Mädchengruppe, die gerade dabei war, in Richtung Schloss zurückzugehen.
„Wir sollten auch los.", sagte Remus. „Zaubertränke fängt in ein paar Minuten an."
„Ach, der olle Slughorn kann sich ruhig noch ein wenig gedulden!", erwiderte Sirius, der es leid geworden war, beleidigte Grimassen zu schneiden. Dennoch liefen er und James zu ihren Taschen. Dort angekommen stutzte Sirius jedoch. „Wo ist mein Verwandlungs-Aufsatz?"
„Weiß nicht, hast du ihn nicht eingepackt?", fragte James.
„Nein, ich habe ihn hier auf die Baumwurzel gelegt, bevor wir mit dem Steinewerfen begonnen haben. Das weiß ich genau!"
„Dann ist er wohl ins Wasser gefallen.", vermutete James.
„Kann gar nicht sein. Er lag zwar nah am Wasser, aber es ging ja kaum Wind und von ganz alleine kann er ja nicht ins Wasser gehüpft sein."
„Dann hat ihn wohl jemand rein geworfen."
„Woher willst du wissen, dass jemand ihn ins Wasser geworfen hat? Vielleicht wurde er ja auch gestohlen!"
„Auf dem Wasser treiben aufgeweichte Papierschnipsel.", meldete sich Peter zu Wort und deutete eifrig auf das Wasser, auf dem tatsächlich noch einige Papierschnipsel zu erkennen waren.
Mit offenem Mund starrte Sirius auf die im Wasser treibenden Überreste seines Verwandlungs-Aufsatzes. „Professor McGonagall wird mich umbringen! Wie ist der bloß dahinein gelangt?"
Ein leises Lachen ertönte hinter den dreien, die auf das Wasser blickten, woraufhin sie sich zu dem belustigten Remus umdrehten.
„Ich habe euch gewarnt.", sagte er immer noch lachend, während er sich bereits zum Gehen umwandte. „Die Wassermenschen haben es wirklich nicht gern, wenn man ihren See mit Steinen bombardiert."

Das Geheimnis der Heulenden HütteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt