Er schrieb, und er schrieb, und er schrieb. Was genau er schrieb, darauf achtete er schon lange nicht mehr. Das Abschreiben der Texte, die Professor Cauldron ihm hingelegt hatte, war mittlerweile zu einem automatischen Prozess geworden. James las das Wort, schrieb es auf und sah zum nächsten Wort, ohne sich sonderlich um den Sinn dahinter zu kümmern. Dafür schmerzten seine Hände viel zu sehr.
Seit beinahe einer Stunde schrieb James jetzt schon Texte aus Büchern ab, die Professor Cauldron ihm vorlegte. Die meisten Texte hatten irgendetwas mit Arithmantik oder anderen Zauberfächern zu tun. Als James jedoch von seiner Lehrerin hatte wissen wollen, welchen Sinn das Abschreiben hatte, war die Antwort lediglich gewesen: „Es tut Ihrer Bildung gut."
Danach hatte sie sich an den großen Schreibtisch in ihrem Büro gesetzt und irgendwelche Schriftstücke durchgesehen. Erst hatte James mit dem Gedanken gespielt, die Arbeit einfach sein zu lassen, aber Professor Cauldron schien ihn selbst durch ihre Blätter hindurch zu beobachten. Sobald er den Stift weglegte, legte sie die Manuskripte weg und forderte ihn zum Fortfahren auf. Als er sich weigerte, drohte sie ihm, ihn nicht mehr aus ihrem Büro zu lassen, bis er mindestens zwanzig Texte abgeschrieben hatte. Da es bereits dunkel wurde, hatte der Gryffindor sich gefügt.
Der kleine Holztisch, an den Professor Cauldron ihn gesetzt hatte, war nicht sehr groß und sein Stuhl nicht sehr bequem. Hier hatten garantiert schon eine ganze Menge an Schülern Strafarbeiten durchmachen müssen. Ob sie alle so sinnlose Arbeit hatten verrichten müssen wie er?
Gerade hatte James einen Text über Drachenzucht abgeschrieben – sein neunzehnter Text – als er einen Krampf bekam. Ächzend lehnte er sich zurück und rieb sich die schmerzenden Hände. Wie auf Kommando blicke die Professorin auf.
„Nach meiner Zählung haben Sie den zwanzigsten Text noch nicht erreicht, Mr. Potter.", sagte sie mit strengem Blick über ihre halbmondförmige Brille.
„Das weiß ich, Professor,", erwiderte James müde. „Ich kann nur gerade nicht weiterschreiben. Ich brauche eine kurze Pause."
Professor Cauldron blickte ihn mit zusammengekniffenen Lippen an. „Nun gut. Während Sie sich kurz ausruhen, werde ich mir Ihren Text durchlesen." Sie stand auf, ging steif zu James herüber und pflückte das beschriebene Blatt von seinem Tisch. James warf ihr ein erschöpftes Lächeln zu, während sich seine Lehrerin mit kühler Präzision umdrehte und sich an ihren Schreibtisch setzte. So eine Ziege!
Für einen Moment gönnte sich James den Luxus, seine Augen zu schließen. Jetzt bereute er es noch mehr, diesen blöden Streich unternommen zu haben. Musste er bei Professor McGonagall nachsitzen, war meistens immerhin Sirius dabei, mit dem er sich unterhalten konnte. Und zudem war McGonagall bei weitem nicht so sauertöpfisch wie ihre Kollegin. Denn Professor McGonagall hatte, auch wenn sie sehr sparsam damit umging, wenigstens einen Sinn für Humor und gute Laune. Professor Cauldron schien hingegen nicht einmal zu wissen, dass so etwas wie gute Laune überhaupt existierte. Manchmal wirkte sie auf James wie eine emotionslose Hülle. Und wenn sie doch einmal Emotionen zeigte, waren es nur solche wie Wut oder Gehässigkeit.
Seine Gedanken streiften zu seinen Freunden. Er wäre jetzt gerne bei ihnen, um den Trank mit zu brauen. Jedenfalls tausendmal lieber, als hier irgendwelche Texte abzuschreiben. Andererseits wurde er immer gleich wütend, wenn er an ihren Plan dachte, weil das mit dem Ausflug in den Verbotenen Wald zu tun hatte, bei dem James keine gute Figur abgegeben hatte. Dass Schniefelus ihn einfach so hatte überrumpeln können, wurmte ihn immer noch. Genau wie die Tatsache, dass er die Misere mit den Zentauren ganz allein hatte lösen können, während James unbeweglich am Boden geklebt hatte. Er musste zwar zugeben, dass Schniefelus das recht geschickt gelöst hatte, aber nichtsdestotrotz war es ein harter Schlag für James gewesen. Er hatte zwar die Fangzähnige Geranie besorgt, was nicht gerade einfach gewesen war, aber im Gegensatz zu dem, was Peter erlebt hatte, war er erschreckend untätig gewesen.
Das war auch ein harter Schlag. Dass Peter mehr geleistet hatte als er, traf James heftiger, als er sich eingestehen wollte. Ausgerechnet Peter, der so ängstlich war, hatte mit einer Riesenspinne gekämpft und sie besiegt. Das hatte James niemals auch nur ansatzweise geschafft. James mochte Peter natürlich gerne und ebenso war ihm klar, dass es überhaupt nicht angebracht war, in ihrer Situation so zu denken. Remus' Leben war in Gefahr, und da ging es nicht darum, ob James bessere Leistung als Peter abgegeben hatte. Er musste und wollte seinem Freund helfen, sie alle wollten das.
Dennoch, so weit hinter Peter zurückstehen zu müssen, ausgerechnet Peter, wurmte ihn. Das war nicht so, wie die Dinge zu sein hatten.
Professor Cauldron riss ihn aus seinen Gedanken. „Einige Worte sind nicht ganz richtig abgeschrieben, aber da das bereits Ihr neunzehnter Text ist, will ich mal nicht so sein." Sie legte den Text zu den achtzehn anderen auf ihrem Schreibtisch. „Sie haben es beinahe geschafft, ein letzter Text kommt noch." Sie erhob sich von ihrem Stuhl und legte James ein weiteres leeres Blatt Pergament vor.
James versuchte, sich zusammenzureißen. Noch einen Text abschreiben, dann war er erlöst. Seine Laune hob sich, bis Professor Cauldron den riesigen Wälzer auf seinen Tisch krachen ließ. Die beiden aufgeschlagenen Seiten waren so klein gedruckt, dass James sich vorbeugen musste, um etwas lesen zu können. Was ihm jedoch sofort auffiel, ohne etwas gelesen zu haben, war, dass der Text lang war.
„Muss ich wirklich den ganzen Text abschreiben?", fragte er entgeistert.
„In der Tat. Alle vier Seiten.", erwiderte seine Lehrerin, während sie zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte.
„Aber das dauert ja ewig!", beschwerte sich der Junge.
Professor Cauldron blickte ihn kalt an. „Dann schlage ich vor, dass Sie schnellstens mit der Arbeit beginnen." Daraufhin wandte sie den Blick wieder der Oberfläche des Tisches zu.
Innerlich fluchend, nahm James die Feder und begann, seiner pochenden Hand zum Trotz, den horrend langen Text abzuschreiben. Er war noch nicht bei der dritten Zeile angekommen, als es an die Bürotür klopfte.
James und die Lehrerin hoben gleichzeitig den Blick. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür und ein Mann in einem blauen Umhang trat ein, hielt jedoch sofort inne, als er James sah.
„Tut mir leid, ich wollte nicht stören.", entschuldigte er sich.
„Nein, Amyus, du musst dich nicht entschuldigen.", entgegnete Professor Cauldron. „Mr. Potter hier verbüßt nur eine kleine Strafe bei mir."
„Ah, ich verstehe." Professor Fawley stand recht unbehaglich im Türeingang, während James ihn mit durchdringendem Blick ansah. Der Lehrer sah ihm kurz in die Augen, blickte aber gleich wieder weg und sah zu seiner Kollegin.
„Ähm, Elvira, könnten wir kurz miteinander sprechen?", fragte er, und fügte gleich darauf hinzu: „Unter vier Augen, wenn es recht ist?"
Professor Cauldron sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, nickte aber gleich darauf und stand auf. „Wir gehen in den Nebenraum." Sie erhob sich und ging steif zu einer zweiten Tür, die in ein weiteres Zimmer führte, in dem sie vermutlich schlief. Bevor sie den Raum betrat, wandte sie sich an James und meinte: „Ich warne Sie, Potter, wenn Sie auf dumme Gedanken kommen sollten, werde ich Ihnen noch weit mehr antun, als Sie Texte abschreiben zu lassen." Damit trat sie in den Raum. Professor Fawley folgte ihr, nicht ohne James noch einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. Dann schlug die Tür hinter ihnen zu.
Es verstand sich von selbst, dass James sofort aufsprang, um an der Tür zu lauschen. Alles andere wäre gegen seine Rumtreiber-Natur gewesen. Vorsichtig stellte er sich ganz nah an die Holztür und legte sein Ohr daran. Von innen hörte er gedämpfte Stimmen.
„ ...hat er diesmal angestellt?", hörte er Fawleys ruhige Stimme.
„Er hat meinen Unterricht gestört, meine Schüler freigelassen und mich verzaubert." Professor Cauldrons schneidende Stimme war auch durch die Tür nicht zu überhören.
„Ach wirklich?", kam es von Fawley. „In welchem Klassenraum denn?" Er klang sehr interessiert. Zu interessiert.
„Im ersten Stockwerk, in der Nähe der Toiletten."
James biss die Zähne zusammen. Professor Cauldron durfte auf keinen Fall noch mehr sagen, sonst wäre es um ihren Plan geschehen. Wenn Fawley genug wusste, konnte er bereits jetzt eins und eins zusammenzählen.
„Ich frage mich, was der Junge dort zu suchen hatte.", murmelte Fawley überlegend.
„Er wollte einen seiner verdammten Streiche spielen, das ist es, was er dort zu suchen hatte. Aber das ist doch nicht der Grund, aus dem du mich sprechen wolltest, oder, Amyus?"
„Nein, natürlich nicht. Ich wollte mit dir über etwas anderes sprechen. Warst du in letzter Zeit in Hogsmeade?"
„In Hogsmeade? Nein, da gehe ich selten hin. Warum?"
„Es geht darum, dass..." Fawley hielt inne. James erstarrte an seinem Platz. Er hatte sein Gewicht ein wenig verlagern wollen und dabei über das Holz der Tür geschabt. Er war darauf gefasst, sofort zu seinem Platz zu sprinten, sobald er Schritte im anderen Zimmer hörte. Stattdessen nahm er nur ein leises Murmeln wahr. Danach war es still. Und zwar für eine ganze Weile. Als James nach einer Minute noch immer nichts gehört hatte, zog er sich langsam von der Tür zurück. Fawley musste die Tür mit einem Muffliatus-Zauber belegt haben. Das Lauschen konnte er jetzt vergessen. Dabei hätte er sehr gerne mitbekommen, was genau der Astronomie-Lehrer mit Professor Cauldron über Hogsmeade zu besprechen hatte. Und was, wenn die Lehrerin ihm doch noch etwas von der Toilette verriet? Dann waren sie geliefert. James besah sich Professor Cauldrons Schreibtisch. Er überlegte kurz, etwas umzuwerfen, um die Lehrer aus dem Zimmer zu locken. Aber im Endeffekt würde das auch nichts bringen, da sie ihre Unterhaltung einfach später fortsetzen konnten. Es blieb James also, so sehr es ihm auch missfiel, keine andere Möglichkeit, als sich wieder an seinen Tisch zu setzen und zu hoffen, dass Fawley in der Unterhaltung nichts erfuhr, was ihn ihre Pläne erraten lassen konnte.
Als die Tür sich wieder öffnete, hatte James kaum eine halbe Zeile abgeschrieben. Schnell blickte er auf. Professor Cauldron ging sofort zu ihrem Schreibtisch und wirkte irgendwie wütend. Auch Professor Fawley zeigte Anzeichen von Wut, als er, ohne sich von der Lehrerin zu verabschieden, in Richtung Tür ging. Im Türrahmen drehte er sich jedoch noch einmal zu James um und meinte: „Ich hoffe, dass du rechtzeitig fertig wirst, um heute zu meinem Unterricht zu kommen."
James setzte ein erzwungenes Lächeln auf. „Natürlich komme ich, Professor."
Fawley erwiderte das Lächeln. „Gut. Und deine Freunde doch sicherlich auch, oder? Wie man hört, wart ihr in den letzten Wochen nie komplett im Unterricht. Da könnte man sich natürlich fragen, was ihr treibt. Ich hoffe, dass ihr wenigstens bei mir vollzählig erscheint. Sonst müsste ich nach euch suchen." Dabei schienen seine Blicke James beinahe zu durchbohren, obwohl sein Lächeln so freundlich war wie immer.
„Keine Sorge,", entgegnete James wachsam, „wir werden Ihren Unterricht nicht versäumen, Professor."
„Das höre ich gerne. Bis nachher, dann. Und noch viel Erfolg bei deiner Arbeit." Ohne Professor Cauldron noch eines Blickes zu würdigen, drehte sich der Lehrer auf dem Absatz um und verschwand aus dem Raum.
James schaffte es, dass sein Gesicht unbeweglich war, als er sich sich wieder seinem Text zuwandte. Professor Fawley war zu wachsam. Sie hätten wissen müssen, dass ihr ständiges Fehlen im Unterricht irgendwo Aufsehen erregen würde. Jetzt blieb ihnen keine andere Wahl, als tatsächlich alle zum Astronomie-Unterricht zu erscheinen, damit Fawley nicht noch mehr Verdacht schöpfte. Er hoffte bloß, dass der Trank bis dahin schon fertig war.
Sein Blick glitt zu Professor Cauldron. Sie war in ihre Unterlagen vertieft, aber die Anspannung in ihr war fühlbar. James fragte sich, welcher Gesprächsgegenstand sie, die Emotionslose, so hatte aufbringen können. Hatte es etwas mit Hogsmeade zu tun? Vielleicht sogar mit Pitchcraft? Aber woher sollte Professor Cauldron Pitchcraft denn kennen? Andererseits hatten sie auch von Professor Fawley gedacht, dass er den Auroren nicht kennen würde, und das hatte sich als ganz schön falsch herausgestellt.
Während seiner Überlegungen hatte James seine Lehrerin die ganze Zeit über angestarrt. Irgendwann bemerkte sie es und hob ihren Kopf ruckartig.
„Was starren Sie mich so an?", bellte sie gereizt. „Müssen Sie nicht noch einen Text abschreiben? Beeilen Sie sich besser damit, denn sonst könnte es sein, dass ich große Lust verspüre, Ihnen noch zwanzig weitere Texte vorzulegen!"
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Das Geheimnis der Heulenden Hütte
FanfictionAm Anfang ihres fünften Schuljahres haben es James, Sirius und Peter endlich geschafft: Sie sind Animagi und können ihren Freund Remus nun bei seinen Werwolfverwandlungen begleiten. Damit steht eigentlich ein Jahr mit noch mehr Streichen und Spaß an...