Wurmschwanz

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Madam Rosmerta sah auch wütend und übermüdet noch immer hinreißend aus. Nicht dass Pitchcraft sich aus so etwas noch irgendetwas machte. Die Reize der Frauen wirkten mittlerweile nicht mehr auf ihn, aber es fiel ihm trotzdem auf. Vor allem, weil sie sehr wütend und sehr übermüdet war.
„Müssen Sie ausgerechnet heute Abend um diese Uhrzeit noch ausgehen?", klagte die Wirtin ihrem Kunden, der vor ihr an der Theke lehnte. Die gesamte Gasstube war in ein düsteres Dämmerlicht getaucht, da nur ein paar Kerzen in verschiedenen Ecken des Raumes brannten, während es draußen schon stockdunkel war.
„Warum regen Sie sich denn so auf?", entgegnete Pitchcraft frohgemut. „Es ist ja noch nicht einmal Mitternacht!"
Rosmerta verdrehte die Augen. „Das mag für Sie vielleicht ungewöhnlich sein, aber die meisten gewöhnlichen Menschen liegen um Mitternacht in ihren Betten. Ich übrigens auch."
„Tja, ich bin kein gewöhnlicher Mensch."
„Das habe ich auch schon mitbekommen." Sie seufzte und strich ihre langen Haare zurück, deren Zopf sich gelöst hatte. „Eigentlich geht es mich ja nichts an, was Sie so spät abends tun, aber es geht mich etwas an, wenn ich dabei geweckt werde. Und das war letztes Mal der Fall. Bekommen Sie oft Mitternachtsbesuche?"
„Nein, in der Regel nicht." Pitchcraft nahm einen Schluck von seinem Butterbier. Er hatte selbst nicht mit diesem Besuch gerechnet, aber in seiner Situation konnte man mit überhaupt nichts rechnen.
„Und ich nehme an, dass Sie sich mit ihrem Mitternachtsbesuch prügeln, kommt in der Regel auch nicht vor?"
„Nein." Sein Gesicht zeigte immer noch Nachwirkungen von dem Fluch seines Auftraggebers. Es waren vor allem kleine Quetschungen, nichts Ernstes, aber schmerzhaft. Zugegebenermaßen hatte Pitchcraft selbst den Streit begonnen. Er hatte seinem Auftraggeber so viele Vorwürfe an den Kopf geschleudert, dass dem der Geduldsfaden gerissen war. Pitchcraft hatte sich nicht einmal verteidigen können, weil sein Zauberstab zu dem Zeitpunkt der Nacht noch im verfluchten Geheimgang der Heulenden Hütte gelegen hatte. Von daher ging die Auseinandersetzung nicht gut für Pitchcraft aus.
„Hören Sie mir zu!", hörte er die schneidende Stimme – zumindest stellte er sie sich so vor, da er in Wahrheit natürlich wieder alles vergessen hatte, was mit ihm zusammenhing – seines Auftraggebers. „Sie werden nie wieder so etwas unternehmen wie heute, verstanden? Hogwarts ist meine Angelegenheit. Sie kümmern sich um den Werwolf, und nur um den. Lassen Sie sich das hier eine Lehre sein."
Es hatte ihm zwar widerstrebt, aber dem Auroren war keine andere Möglichkeit geblieben, als seine Zustimmung zu geben. Und er hatte die ganze Woche, die seitdem verstrichen war, kaum mehr einen Fuß nach draußen gesetzt, sondern sich nur mithilfe seiner Unterlagen auf die Vollmondnacht vorbereitet. Nur einmal ging er nochmal in den Geheimgang, um seinen Zauberstab zurückzuholen.
„Aber warum müssen Sie denn ausgerechnet heute Nacht ausgehen? In einer solchen Nacht ist nie jemand draußen, hören Sie nur!", riss ihn Madam Rosmertas Stimme aus den Gedanken.
Pitchcraft lächelte. Ja, er hörte es nur allzu gut. Das Geheul des Werwolfs war hier drinnen zwar nicht allzu deutlich zu hören, aber er erkannte es trotzdem. Es klang in der Tat gespenstisch, zumindest für weniger erfahrene Leute. Pitchcraft fragte sich, ob die Leute wirklich nicht wussten, was sich in der Hütte verbarg, oder es einfach nicht wahrhaben wollten. Jede Nacht bei Vollmond ein so schauriges Geheul? Jeder halbwegs intelligente Zauberer müsste doch auf den richtigen Gedanken kommen! Aber vielleicht kümmerte es sie auch einfach nicht, was in der Hütte war. Idioten, die glaubten, ihnen könne nichts passieren. Bis der Werwolf sie in ihren Betten überraschte.
Der ehemalige Auror räusperte sich. „Madam Rosmerta, ich verstehe Ihr Unbehagen, aber Sie werden mich nicht davon abhalten können, heute Nacht da rauszugehen. Ich fürchte mich nicht vor den Geräuschen, und keine Sorge, ich werde mich bestimmt nicht in die Nähe der Hütte wagen." Eine glatte Lüge, aber es konnte nicht schaden, wenn die Gastwirtin nicht weiter besorgt war. Außerdem sollte niemand wissen, was er hier eigentlich wollte. „Ich bezahle Sie schließlich gut, nicht wahr?"
Rosmerta seufzte. „Nun gut, das ist wahr. Wie Sie wollen, dann gehen Sie eben, ich halte Sie nicht davon ab. Ich warte noch, bis Sie ihr Butterbier ausgetrunken haben." Sie schnappte sich ein leeres Glas und begann geistesabwesend, es mit einem Lappen zu putzen.
Pitchcraft sah auf seinen noch fast gefüllten Krug, wobei er in sich hinein lächelte. Sie traute ihm nicht, weshalb sie ihn auf keinen Fall in ihrer Gaststube allein lassen wollte. Seinetwegen konnte sie das ruhig tun, es war ihm gleich. Sollte sie sich doch selbst den Schlaf rauben, er hatte es nicht eilig. Eigentlich hatte er die ganze Nacht Zeit. Und er wollte das Ganze auf keinen Fall zu schnell hinter sich bringen. Ein wenig Freude musste ihm nach diesen anstrengenden zwei Wochen auch vergönnt sein. Hoffentlich würde ihn niemand stören, aber eigentlich glaubte er nicht daran. Er vertraute darauf, dass sein Auftraggeber sich um jedwede Störung gekümmert hatte, auch um die Menschen, die bei ihm eingedrungen waren. Niemand würde Pitchcraft von seiner Beute abhalten.
Er konnte bereits vor sich sehen, wie er den Werwolf töten würde. Nicht direkt, nein, er würde ihn leiden lassen, wie er es immer tat. Das war das Mindeste, was er für Susan und alle anderen, die jemals von Werwölfen zerfleischt worden waren, tun konnte. Natürlich musste er dabei an seine andere Aufgabe denken. Denn selbstverständlich war die Arbeit nicht getan, indem er den Werwolf umbrachte. Es musste wie ein Unfall aussehen, als habe er sich selbst in seiner Raserei aufgeschlitzt. Das war eine schwierige Aufgabe, weshalb sein Auftraggeber auch ihn ausgewählt hatte. Er wusste mehr über Werwölfe als alle anderen zusammen, deshalb konnte er jede Todesart vortäuschen, die er wollte.
Insgeheim war es Pitchcraft vollkommen egal, wie es am Ende aussah. Er hatte nur Spaß am Töten des Tieres. Was danach kam, war reine Auftragsarbeit. Pitchcraft konnte nur vermuten, was sein Auftraggeber damit bezweckte.
Der Tod sollte natürlich aussehen, keine Frage. Zudem schien er zu wollen, dass alle Menschen erkannten, was sich wirklich jahrelang in der Hütte abgespielt hatte. Das würde für ein Spektakel sorgen. Und wenn das Ministerium erfuhr, dass Albus Dumbledore jahrelang einen Werwolf in Hogwarts gehalten hatte...
Aber das kümmerte Pitchcraft nicht. Zu diesem Zeitpunkt würde er nämlich schon längst auf und davon sein, auf der Suche nach weiteren Werwölfen. Er hatte bereits ein weiteres Exemplar im Auge, einen ganz besonders bösartigen Werwolf, vor dem die gesamte Zaubererwelt sich fürchtete...
Ein riesiger Lärm ertönte aus dem Nebenraum links von der Theke. Das Geräusch von zerberstenden Flaschen und fließender Flüssigkeit war zu hören. Es kam so plötzlich, dass Pitchcraft beinahe sein Butterbier umstieß und Madam Rosmerta das Glas in ihrer Hand fallen ließ, was zu weiteren Scherben führte.
„Um Gottes Willen, was ist denn da los?", rief sie aus und lief in den Nebenraum, der ihre Vorratskammer darstellte. Der Großteil der Getränke des Gasthauses lagerten dort, während nur ein kleiner Teil in einem kleinen Schrank hinter der Theke stand, direkt neben einem riesigen Spiegel.
Ein gequälter Schrei ertönte aus der Vorratskammer. Pitchcraft erkundigte sich nach dem Grund. Die Wirtin antwortete genervt: „Irgendwie sind die Flaschen hier umgekippt. Und eines von den Fässern hat auf einmal ein Leck!" Es raschelte kurz, dann rief sie aus: „Bissspuren! Oh, diese verdammten Ratten!"
„Kann ich helfen?", fragte der Zauberer nach.
„Nein danke, das mache ich allein." Es wunderte Pitchcraft nicht. Rosmerta ließ nie irgendjemanden in ihre heilige Vorratskammer, selbst im größten Notfall nicht. Egal, Pitchcraft hatte nichts dagegen, weiter hier zu sitzen und sein Bier zu trinken.
Sein Blick fiel in den Spiegel hinter der Theke. Ein beinahe todbleicher Mann blickte ihn an, mit matten blonden Haaren, die ungeordnet sein Gesicht einrahmten. Die Narbe auf seiner Wange stach unangenehm hervor. Das Einzige, was an ihm nicht irgendwie leblos aussah, waren seine Augen, die ihm hart, unerbittlich und voller Energie aus seinem Gesicht entgegen blitzten. Für einen Moment fragte sich Pitchcraft, wie er zu diesem Menschen geworden war. Einer seiner ehemaligen Freunde hätte vermutlich gesagt, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst war. Aber so war es eben. Das Leben hatte ihn zu diesem Schatten gemacht, und er konnte sich sein altes Leben nicht mehr zurückholen. Er war ein Schatten, allerdings ein tödlicher Schatten, wie der Werwolf in der Hütte bald feststellen würde.
Pitchcrafts Blick wurde von seinem Spiegelbild abgelenkt, als es schon wieder klirrte. Diesmal aber nicht in der Vorratskammer, sondern direkt vor ihm. Aus dem Regal mit den Getränken fiel eine Flasche nach der anderen hinunter und Pitchcraft erkannte auch den Grund: Eine kleine, fette Ratte saß in dem Regal und quiekte.
Entnervt von dem Klirren der zerstörten Flaschen trat Pitchcraft mit erhobenem Zauberstab hinter die Theke, um der Ratte den Garaus zu machen. Sobald er sich jedoch zu bewegen begann, huschte die Ratte mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Wendigkeit von dem Regal herunter. Sie landete neben den Scherben und war so schnell in einem Loch in der Wand verschwunden, dass Pitchcraft nicht einmal Zeit gehabt hatte, irgendeinen Zauberspruch zu formulieren. Für einen Moment sah er auf das kleine Loch herab, in dem das Tier verschwunden war, dann zuckte er mit den Schultern. Irgendwann würde die Ratte ihr Ende finden.
Er wandte sich der Bescherung auf dem Boden zu. In diesem Moment kam Madam Rosmerta aus der Vorratskammer gelaufen. Als sie die zerstörten Flaschen sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. „Meine Güte, hier auch?"
„Ich hätte das Mistvieh fast erwischt, aber es war schneller.", meinte der Auror.
„Ich hätte diese Viecher schon lange austreiben lassen sollen!", schimpfte die Wirtin. Gleich darauf sagte sie in einer Art, die keinen Widerspruch duldete: „Sie haben doch bereits ihren Zauberstab zur Hand. Wären Sie so freundlich, diese Bescherung hier aufzuräumen? Ich habe hier drin nämlich zu tun." Sprach's und verschwand gleich wieder im Nebenraum.
Pitchcraft stöhnte. Das hatte er heute Abend eigentlich nicht gebraucht. Aber egal, heute war ein guter Tag, da konnte er auch schnell ein paar zerbrochene Flaschen reparieren. Geschickt und beinahe schon fahrlässig schwang Pitchcraft seinen Zauberstab, wobei sich die Scherben wieder zusammensetzten und die Flüssigkeiten sich in den Flaschen sammelten. Zumindest die, die noch nicht zwischen den Dielen versickert war. Für den Zauberer war das ein Kinderspiel, er hatte schon weit Schwierigeres tun müssen.
Es dauerte nicht allzu lange, bis alle Flaschen wieder an ihrem Platz standen – intakt, aber um einiges weniger gefüllt. Pitchcraft drehte sich sofort wieder zu seinem Platz um, als urplötzlich etwas sein Bein hoch krabbelte. Das kam so plötzlich, dass der Zauberer vor Schreck das Gleichgewicht verlor und hinstürzte. Panisch befühlte er seine Hose, aber das Mistvieh war nicht mehr drin. Fluchend tastete Pitchcraft nach seinem fallen gelassenen Zauberstab und suchte den Boden ab, ohne ein Zeichen der Ratte zu finden. Dann erhob er sich und setzte sich wieder zu seinem Butterbier, wobei er versuchte, die Peinlichkeit von eben zu vergessen. Er trank einen tiefen Zug aus seinem Krug. Irgendwie schien es einen anderen Geschmack als vorher zu haben, aber vielleicht rührte das auch nur von dem ganzen Stress eben her. Er trank Butterbier sowieso nicht für seinen Geschmack.
Das durchdringende Geheul der Hütte drang wieder an seine Ohren. Auf einmal verspürte Pitchcraft den großen Drang, sofort zu seinem Spaziergang aufzubrechen. Er leerte seinen Krug in einem Zug und wandte sich zum Gehen. Bezahlt hatte er ja schon.
Madam Rosmerta schien immer noch damit beschäftigt zu sein, ihre Vorratskammer wieder auf Vordermann zu bringen. Pitchcraft war es gleichgültig. Er ging flotten Schrittes zur Tür und hatte im Nu jedweden Gedanken an Ratten, zerbrochene Flaschen und Madam Rosmerta verdrängt. Alles, was zählte, lag in der heruntergekommenen Hütte, zu der er jetzt gehen würde. Der so sehnlichst von ihm erwartete Augenblick lag nahe. Und Pitchcraft hatte vor, ihn voll und ganz auszukosten.

Das Geheimnis der Heulenden HütteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt