Remus starrte die Wand an. Das tat er schon seit beinahe einer Stunde und es war nicht absehbar, wann er aus seiner Starre wieder erwachen würde. Um ihn herum saßen James, Sirius und Peter auf dem nassen Steinboden der Toilette und schwiegen. Sie hatten den Versuch mittlerweile aufgegeben, Remus aus seiner Starre herauszuholen. Was sie auch getan hatten, es hatte nicht geholfen. Remus starrte immer noch genauso vor sich hin wie zuvor. James hatte schon Angst, dass er jetzt verrückt wurde. Er hatte bereits von Leuten gehört, die angesichts ihres nahenden Todes verrückt geworden waren. Und Remus' Tod nahte sich ihm nun mit rasender Geschwindigkeit.
Fawley hatte ihm mit dem Umstürzen des Kessels den Todesstoß versetzt. Sie hatten nichts von dem Trank retten können. Die wenigen Reste auf dem Boden waren unmöglich aufzuwischen, und den Großteil der Flüssigkeit hatte Fawley ohnehin in eine Toilettenschüssel gekippt, wie die Maulende Myrte ihnen mit großem Klagen berichtet hatte. Sie hatte sich nämlich zu dem Zeitpunkt des Ausschüttens in besagter Schüssel befunden. Nun war sie zum Weinen in eine andere Schüssel geschlüpft, wofür James sehr dankbar war. Sie hatten genügend Probleme, ohne sich noch mit einem wehleidigen Geistermädchen herumschlagen zu müssen.
James sah seine Freunde an. Sirius neben ihm fuhr geistesabwesend mit dem Finger über die Risse in dem Steinboden. Vermutlich überlegte auch er, wie sie das Problem noch lösen konnten, und kam wahrscheinlich, wie James, zu keiner Antwort. Peter hatte den Kopf zur Seite geneigt und die Augen geschlossen. Es sah beinahe so aus, als schliefe er, aber James wusste, dass das nicht sein konnte. Niemand von ihnen konnte schlafen. Und Remus hockte immer noch da und starrte immer noch stur geradeaus, ohne zu sehen oder zu hören. Seine Schultern hingen herab, wie eigentlich sein ganzer Körper. Sein Gesicht war so bleich geworden, wie es nicht einmal nach seinem ersten Treffen mit Fawley gewesen war. Er wirkte, als habe ihn alle Kraft verlassen.
Auch James spürte eine Ermattung, aber das wollte er nicht zugeben. Sie konnten doch nicht verloren haben! Sie waren die Rumtreiber, sie mussten sich etwas einfallen lassen! Aber ihm fiel nichts ein. Keine Idee, die sie aus dieser Misere herausbringen konnte. Normalerweise steckte er doch immer voller Ideen, was war los mit ihm? Aber es kam nichts. Nicht einmal der Hauch eines nützlichen Gedankens. Nichts, mit dem er seinen Freund retten konnte.
Plötzlich, und gänzlich unerwartet, öffnete Remus seinen Mund. „Wie?"
„Was meinst du?", fragte James nach, während Sirius und Peter aus ihren Gedanken erwachten.
Remus drehte langsam seinen Kopf und starrte James an. Seine Augen waren blutunterlaufen. „Meine Frage war: Wie? Wie konnte er diesen Kessel finden? Woher wusste er, wo er suchen muss?"
„Weiß ich nicht.", antwortete James. „Vielleicht hat Professor Cauldron ihm tatsächlich verraten, wo sie mich gesehen hat."
„Du hättest verhindern müssen, dass die beiden miteinander reden." , entgegnete Remus vorwurfsvoll.
„Oh ja, und wie hätte ich das machen sollen?", gab James schnippisch zurück. „Hätte ich mich etwa zwischen die beiden stellen und sie mit meinem Zauberstab bedrohen sollen? Die hätten mich doch nur ausgelacht!"
Sirius hob beruhigend die Hände und meinte: „Beruhigt euch, vielleicht hat er es ja auch gar nicht von Professor Cauldron erfahren."
„Ja, vielleicht hat er es auch von deiner Freundin erfahren!", giftete Remus nun in Richtung von Sirius. „Die liebe Megan, die du direkt in unsere Brauküche geführt hast! Sie hat unseren Trank gesehen und sich sogar etwas davon mitgenommen! Ich habe dir gesagt, dass sie plaudern wird, ich habe es dir gesagt!"
„Moment mal!", rief Sirius nun wütend, „woher willst du das jetzt wissen? Ich bin ihr doch noch einmal extra nachgelaufen und habe ihr eingeschärft, dass sie nichts verrät. Warum soll ausgerechnet sie es jetzt gewesen sein? Vielleicht hat auch der ach so kluge Herr Lupin mal aus Versehen etwas fallen gelassen, und will seinen Fehler jetzt uns anlasten?"
Remus stieß verächtlich die Luft aus. „Nein, nicht ich, ich weiß nämlich, wie man etwas geheim hält! Ganz im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten! Verrat mir eins, Sirius: Willst du unbedingt, dass ich sterbe?"
Sirius starrte Remus mit offenem Mund an. „Na...natürlich nicht, was...?"
„Warum hast du dann nicht mehr Wert auf die Geheimhaltung gelegt? Warum habt ihr alle nicht besser aufgepasst? Weil ihr das alles für ein lustiges Spiel gehalten habt und nicht glauben wolltet, wie ernst es eigentlich war. Und jetzt habt ihr mich zum Tod verurteilt!" Remus' Blick war pure Glut.
Sirius entgegnete mit hoher Stimme: „Wie kannst du so etwas sa..."
„Wie ich so etwas sagen kann? Bist du wirklich so blöd, oder tust du nur so? Dieses Ganze ist allein..."
James schaltete sich mit einem plötzlichen Aufschrei ein: „Seid still, alle beide!"
Der Schrei hallte in der kleinen Toilette wider und hatte tatsächlich den Effekt, dass Sirius und Remus ihren Freund erstaunt ansahen. Dieser holte tief Luft und fuhr fort: „Ich weiß nicht, wie Fawley es herausgefunden hat. Vielleicht hat er es von Professor Cauldron, oder von Megan, oder er hat es auf eine ganz andere Weise herausgefunden. Das ist doch jetzt egal! Tatsache ist, dass er den Trank verschüttet hat, und daher sollten wir uns nicht um das 'Wie hat er das herausgefunden?' streiten, sondern um das 'Wie kommen wir da wieder heraus?'! Verstanden?"
Er war in seiner Erregung aufgestanden, und setzte sich jetzt wieder.
Für eine Weile sagte niemand etwas. Dann meinte Remus leise: „Und wie sollen wir da wieder herauskommen? Vollmond ist in der nächsten Nacht! Wir haben nur noch knappe vierundzwanzig Stunden bis dahin, und für einen neuen Trank brauchen wir mindestens eine Woche, selbst wenn wir das Buch noch hätten und genügend Zutaten. Und das haben wir nicht. Seht es ein, wir haben keine Chance, da herauszukommen. Also, ich habe keine Chance." Er hielt kurz inne.
Dann sprach er weiter, mit etwas festerer Stimme. „Es tut mir leid, was ich eben gesagt habe. Ihr habt mehr für mich getan, als ich es verdiene." Wieder machte er eine Pause.
„Ich danke euch für alles, was ihr für mich getan habt. Ich werde immer dankbar dafür sein, solche Freunde wie euch gefunden zu haben.", fuhr er fort. „Ihr habt mir das Gefühl gegeben, ein Mensch zu sein, und kein verabscheuungswürdiges Monster. Die letzten Jahre waren die schönsten in meinem ganzen Leben. Aber jetzt ist es vorbei. Es gibt keine Möglichkeit, um diesem Zauberer noch zu entkommen. Ihr könnt ihn nicht aufhalten. Lasst mich gehen, bitte. Ihr sollt euch nicht meinetwegen euer Leben zerstören." Seine Stimme brach und er verbarg das Gesicht in den Händen.
James starrte seinen Freund an. So mutlos und am Boden zerstört hatte er ihn noch nie gesehen. Er war beinahe ganz in sich zusammengesunken und seine Schultern bebten. James ging auf, dass er weinte. Er hatte Remus noch nie weinen sehen.
Mit trockenem Mund versuchte James, seinem Freund Mut zu machen: „Wir können das immer noch schaffen. Gib nicht auf!" Er versuchte, zuversichtlich zu klingen, aber das war sehr schwer. Er fühlte sich furchtbar.
„Genau,", stimmte Sirius ihm zu. „Wir geben dich jedenfalls nicht auf. Wir können doch einfach woanders hingehen. In die Höhlen hinter Hogsmeade, wo wir dich während des Vollmonds verstecken."
Remus blickte auf. Sein Gesicht war mit Tränen bedeckt. „Damit ich euch dort entkomme und irgendwelche Menschen umbringe? Nein danke. Das bringt nichts. Ich muss in diese Hütte. Und dort wird er mich dann finden."
„Nein, das muss nicht sein, Remus, das...", warf James ein, aber dann blieben ihm die Worte im Hals stecken. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Remus hatte Recht: Eine wirkliche Lösung gab es nicht. Jedenfalls keine, aus der sie heil herauskommen konnten.
„Wir verteidigen dich gegen Pitchcraft!", rief Peter, der bisher noch gar nichts gesagt hatte. Er zitterte am ganzen Leib, sagte aber mit fester Stimme: „Wenn er dich haben will, muss er erst an uns vorbei!"
Alle starrten ihn erstaunt an. Das war überhaupt nicht Peters Art. Aber seine Augen glühten diesmal im festen Entschluss.
„Peter," ,sagte Remus vorsichtig, „wenn ihr das tut, werdet ihr sterben. Mit absoluter Sicherheit sogar! Der Kerl ist viel mächtiger als ihr."
„Na und?", entgegnete James. „Dann sterben wir eben. Wir werden dich trotzdem verteidigen. Wir überlassen dich ihm nicht kampflos!"
„Genau!", bekräftigte Sirius, „Außerdem sind wir kampferprobt. Peter hat eine Riesenspinne umgebracht, ich habe mich gegen einen Monster-Crup verteidigt, und James..." Er zögerte kurz, während James die Augen verdrehte. „Nun ja, James hat sicher auch viel Kampferfahrung. Wir helfen dir!"
Remus schüttelte nur den Kopf, aber ein leises, äußerst leises Lächeln erschien auf seinem todbleichen Gesicht. Dennoch entgegnete er weiterhin: „Ich kann das nicht zulassen. Bitte, ich will nicht, dass ihr für mich..."
Plötzlich sog Peter scharf die Luft ein. Alle starrten ihn an, als er plötzlich rief: „Na klar!" Er fing an, zu lachen, während ihn seine Freunde perplex anstarrten.
„Wurmschwanz, alles in Ordnung?", fragte James vorsichtig nach.
„Oh ja, all... alles in bester ... bester Ordnung!", stieß Peter atemlos hervor. „Ich weiß jetzt, wie wir das Problem lösen, ohne zu sterben!" Und er lachte wieder.
„Und wie schaffen wir das, ohne Trank?", erkundigte sich Remus matt.
„Oh, nicht ohne. Mit Trank!" Und als sie ihn immer noch anstarrten, als wäre er ein Kandidat für die Klapsmühle, lachte er wieder drauflos. Erst nach einer Weile kriegte er sich wieder ein, woraufhin ihn Sirius fragte: „Also, was ist so lustig?"
Peter genoss es sichtlich, etwas zu wissen, was die anderen nicht wussten, als er entgegnete: „Ihr habt euch doch eben über Megan ausgelassen, nicht wahr?"
„Megan?", murmelte Sirius. „Was hat denn Megan damit zu tun?" Und dann erhellte sich plötzlich sein Gesicht. „Oh." Dann fing auch er an zu lachen, ebenso wie plötzlich auch Remus ein großes Grinsen auf seinem Gesicht zeigte.
James verstand überhaupt nichts mehr. Seine drei Freunde, sogar Remus, waren auf einmal wieder mehr oder weniger gut gelaunt, und er verstand einfach nicht, warum.
Er befürchtete, dass sie jetzt alle miteinander verrückt gworden waren.
Schließlich rief er laut über die Lacher von Sirius und Peter hinweg: „Was ist denn mit Megan?"
Es war Remus, der antwortete. „Sie hat einen Teil des Trankes in eine Phiole abgefüllt, für ihre Zaubertranksammlung. Es ist nur ein kleiner Teil, und der Trank war zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz fertig, aber er sollte funktionieren. Es ist die einzige Chance, die wir haben. Aber es ist eine gute Chance."
James schlug sich die Hand vor den Kopf. Natürlich, davon hatten sie ihm doch erzählt. Wie blöd, dass sie so lange gebraucht hatten, um sich daran zu erinnern. Langsam verebbte das Lachen von Sirius und Peter. Sirius setzte sich aufrecht hin und meinte: „Also, wie holen wir uns die Phiole?"
„Wir müssen noch mehr als das machen.", entgegnete Remus. „Der Werwolfleichnam muss noch deponiert werden, damit der Plan komplett ist. Erinnert ihr euch? Das wollten wir ja noch machen. Das tun am Besten zwei von uns, während die zwei anderen Megans Phiole holen." Sein Gesicht war immer noch bleich, schien sich aber wieder mit Farbe zu füllen.
„Also wird Tatze auf jeden Fall Megans Phiole besorgen.", meinte Peter.
„Muss das sein?", fragte Sirius genervt.
„Ja, das muss sein.", sagte Remus bestimmt. „Du kennst sie am Besten, und sie mag dich. Du hast den besten Draht zu ihr."
„Auch wenn das wohl bedeutet, dass du wieder mit ihr zusammenkommen musst, Tatze!", grinste James. „Nur so wird sie dir ihre heiligen Schätze zeigen!"
Sirius sah ihn mit finsterem Blick an. Da warf Remus ein: „Ach komm schon, Sirius! Megan ist bestimmt ein besserer Partner als Pitchcraft!" Dabei ließ er ein spöttisches Lächeln sehen, das erste seit Tagen.
Sirius seufzte auf. „Nun ja, da hast du auf jeden Fall recht, Moony."

DU LIEST GERADE
Das Geheimnis der Heulenden Hütte
FanfictionAm Anfang ihres fünften Schuljahres haben es James, Sirius und Peter endlich geschafft: Sie sind Animagi und können ihren Freund Remus nun bei seinen Werwolfverwandlungen begleiten. Damit steht eigentlich ein Jahr mit noch mehr Streichen und Spaß an...