"Shadow of the day"

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"Was ist passiert?", fragte die Gynäkologin während sie die Patientin mit Hilfe einer Schwester auf eine Trage bettete. "Sie hatte plötzlich starke Schmerzen und dann war da das Blut...", sprach der Mann der Frau und hielt deren Hand. Addison nickte nur und brachte die Patientin schnell in ein Untersuchungszimmer. "Wie lautet ihr Name Miss?", fragte sie, während sie die Vitalwerte prüfte und den Ultraschall vorbereitete. "Helena...", keuchte diese, "Helena Johnson."
"Okay, Helena. Mein Name ist Dr. Montgomery, ich bin in diesem Krankenhaus die Oberärztin der Gynäkologie. Ich fange jetzt mit der Untersuchung an, wie weit sind Sie mit Ihrer Schwangerschaft?"
„In der 30. Woche."

Nickend nahm Addison dies zur Kenntnis und fing mit der Ultraschalluntersuchung an. „Haben Sie anstrengende Tätigkeiten vollführt bevor die starken Schmerzen aufgetreten sind?", fragte sie, während sie auf den Monitor des Gerätes nach dem Fötus schaute. „Nein, ich habe lediglich leichte Arbeiten im Haushalt verrichtet.", war Helenas Antwort. Ihr Mann stand die ganze Zeit über neben ihr und redete ihr gut zu.

Schnell sah Addison die Komplikation ihrer Patientin. „Sie haben eine Plazentaablösung... wir müssen ihr Kind sofort holen.", lautete ihre Diagnose. Ängstlich sah Helena zu Addison rüber, als diese das übrige Ultraschallgel von ihrem Bauch und vom Schallkopf des Gerätes entfernte. „Aber... es ist doch noch viel zu früh...", flüsterte die werdende Mutter.
Mitfühlend sah die Ärztin zu ihrer Patientin, stand auf und stellte sich neben das Bett. „Ja, es ist noch zu früh und es wäre nicht richtig von mir, Ihnen zu sagen, dass es kein Risiko ist. Aber wenn wir Ihr Kind nicht auf die Welt holen, besteht für Sie und Ihrem Baby Lebensgefahr. Wir haben schon Säuglinge viel früher auf die Welt holen müssen, und sie haben sich gut erholt und sind wohlauf. Sie sind bei uns in guten Händen Helena.", versicherte sie ihr ruhig. Helena schien zu überlegen und sah zweifelnd zu ihrem Mann, welcher nun stillschweigend auf der anderen Seite des Bettes stand. „Was sagst du dazu, Ethan?"
„Wenn es notwendig ist, tun Sie bitte alles dafür, dass meine Frau und unser Kind überleben.", antwortete der Angesprochene und sah Addison ernst an. „Ich werde mein Bestes geben, versprochen.", versprach die Gynäkologin aufmunternd lächelnd.

Eine halbe Stunde später stand Addison im OP, Helena war bereits in die Narkose versetzt worden. Die Rothaarige hatte beschlossen, eine Sectio durchzuführen, damit sie die Plazenta direkt entfernen konnte. Außerdem konnte sie dann sehen, ob Helena noch andere innere Verletzungen hatte. Als Addison den Uterus öffnete, holte sie zuerst den Säugling aus diesem und übergab ihn an Alex.

„Karev, kümmern Sie sich um den Jungen, er ist längere Zeit unterversorgt gewesen.", wies sie an. Alex nahm den Säugling an sich und prüfte die Vitalwerte. „Er atmet nicht...", stellte er fest. „Tun Sie was sie können, Karev!", antwortete Addison während sie die Plazenta aus dem Uterus holte. „Verdammt, sie hat durch die Ablösung viel Blut verloren, hängen Sie noch eine Blutkonserve an!", wies sie eine Schwester an. „Der Blutdruck sinkt, Dr. Montgomery.", informierte eine weitere OP-Schwester die Ärztin im selben Moment.

Helena's Kreislauf sank immer weiter, während Addison versuchte, das Leben ihrer Patientin zu retten.
Plötzlich setzte der Herzschlag aus. „Laden Sie auf 200!", rief Addison hektisch aus und schickte kurz darauf den ersten Stromschlag durch den Körper der jungen Frau. „Noch kein Sinusrhythmus, Dr."
„Dann auf 250!", antwortete die Gynäkologin darauf und schockte Helena erneut. „Unverändert.", stellte die Schwester fest. Addison seufzte. „Los Helena, geben Sie nicht auf! Laden Sie auf 300!", sprach Addison aus und wollte es somit ein letztes Mal versuchen, ihre Patientin zurück ins Leben zu holen.

Ein durchgehender Piepton ertönte im OP-Saal, während Addison traurig auf Helenas leblosen Körper schaute. „Zeitpunkt des Todes: 09:30 Uhr.", seufzte sie. „Karev, wie sieht es mit dem Jungen aus?", fragend sah sie zu ihrem Kollegen rüber. Dieser senkte nur den Kopf und schüttelte ebendiesen. „Vor einigen Minuten hat auch sein Kreislauf versagt...", antwortete er der Oberärztin. Addison nickte nur und zog sich den Mundschutz vom Gesicht.

„Kommen Sie mit damit wir den Ehemann informieren können?", fragte sie seufzend und wollte den OP so schnell wie möglich verlassen. Alex nickte und folgte Addison in den Waschraum. Sie entledigten sich der Operationskleidung und wuschen sich, ehe sie sich auf den Weg zum Wartebereich machten um Mr. Johnson aufzusuchen.

Ethan Johnson stand auf, als er die beiden Ärzte auf sich zugehen sah und kam ihnen entgegen. „Da sind Sie ja endlich! Wie geht es Helena? Und dem Baby?", fragte er aufgeregt. „Mr. Johnson... kommen Sie doch bitte mit uns.", bat Addison ihn und ging mit Alex und Ethan in ein leeres Besprechungszimmer.

Der Mann freute sich so sehr, seine Familie endlich in die Arme schließen zu können. Hätte Mark genauso dagesessen und auf sie gewartet? Hätte er sich Sorgen gemacht?
"Nein, Montgomery, du denkst jetzt nicht daran, was damals gewesen sein könnte. Zeige verdammt nochmal dein Mitgefühl. Er hat seine Familie verloren!"

"Setzen Sie sich doch bitte, Mr. Johnson", bot Addison dem Mann an und deutet auf einen der Stühle im Raum. "Ich möchte mich nicht setzen, sondern wissen, was mit meiner Frau und meinem Kind ist!", sprach dieser aufgebracht aus. "Mr. Johnson... Helena hatte durch die Ablösung ihrer Plazenta viel Blut verloren, was ihren Kreislauf stark beansprucht hat. Ihr Baby konnte seit der Ablösung nicht mit lebensnotwendigen Nährstoffen versorgt werden. Es tut mir leid Ihnen das sagen zu müssen, und ich versichere Ihnen, wir haben alles in unserer Macht stehende getan, doch Helena's Körper war zu geschwächt. Sie hat es leider nicht geschafft.", bedauerte die Gynäkologin. Entsetzt starrte Ethan die Ärztin an. "...und... und unser Baby?", fragte er schließlich. Nun schaltete Alex sich ein: "Ihr Sohn... er hat es leider auch nicht geschafft..."

Der junge Witwer sah abwechselnd ungläubig zu Addison und Alex, versuchte, zu begreifen, was passiert war. Dass er seine kleine Familie verloren hatte, noch bevor die Drei eine Chance hatten, eine solche sein zu können. "Das... das kann doch nicht wahr sein!", rief er verzweifelt aus und ging einige Schritte auf Addison zu. Diese versuchte den Abstand zu bewahren und ging automatisch ein paar Schritte zurück. "Sie haben mir gesagt, nein, versichert, dass meine Frau und unser Kind bei Ihnen...", er zeigte bedrohlich mit einem Finger auf die Gynäkologin, "...in besten Händen ist! Sie haben versichert, dass Sie alles erdenkliche tun werden, um ihre Leben zu retten! Sie haben es mir versprochen!", schrie er.

Addison nickte, schluckte die Tränen herunter. Die Verzweiflung des jungen Mannes ergriff sie doch mehr, als sie gedacht hatte. Wusste sie doch selber, wie man sich fühlte, wenn das eigene Kind zu sterben drohte. Und sie wollte sich nicht ausmalen, wie es sich anfühlte, das eigene Fleisch und Blut wirklich zu verlieren. Und dazu auch noch den Menschen, den man über alles geliebt hat.

"Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen müssen, Mister, aber auch wir Ärzte stoßen an unsere Grenzen und können niemals garantieren, dass alles gut werden wird. Es tut mir sehr leid, für Ihren Verlust, wirklich...", beteuerte sie und sah ihm fest in die Augen, "...aber bitte beruhigen Sie sich.", versuchte sie auf ihn einzureden.
"Ich will mich nicht beruhigen! Haben Sie Kinder, Dr. Montgomery?!", fragte Ethan, zitternd vor Wut. Addison nickte nur. "Dann sagen Sie mir verdammt nochmal nicht, dass ich mich beruhigen soll! Sie haben Glück, ihr Kind ist am Leben und Sie durften miterleben, wie es aufwächst, das erste mal lacht, die ersten Schritte geht... Wie es sich entwickelt. Das alles haben Sie mir weggenommen! Und nicht nur das! Sie haben mir die Liebe meines Lebens geraubt!", rief er und kam Addison gefährlich nahe.
Diese wusste nichts darauf zu erwidern, sie konnte nur zu gut nachvollziehen, warum der junge Mann so aufgebracht und wütend war. Alex ging zwischen die Beiden. "Mr. Johnson, es bringt Ihnen nichts, wenn Sie sich so aufregen. Beruhigen Sie sich bitte und setzen sich erst einmal. Wir können für Sie einen Psychologen aus dem Krankenhaus rufen, damit Sie mit jemanden darüber reden können.", bot er Ethan an. "Ich will keinen verdammten Psychologen!", schrie der Angesprochene, "Sie werden noch sehen, was Sie davon haben Dr. Montgomery. Sie werden heute nicht zum letzten Mal von mir gehört haben.", versicherte er, ehe er sich umdrehte und wütend den Raum verließ.

Seufzend ließ Addison sich auf einen der Stühle sinken. Alex setzte sich neben sie. "Er wird sich schon wieder beruhigen.", sprach er zu der Rothaarigen. Diese legte ihren Kopf in ihre Hände. "Hoffentlich. Ich habe das Gefühl, dass er das verdammt ernst meinte...", sprach sie leise aus. "Aber es nützt alles nichts, schlechte Tage kommen und gehen. In unserem Job werden wir jeden Tag mit dem Tod konfrontiert, und damit müssen wir umgehen können.", sagte sie nun, atmete tief durch, straffte die Schultern und stand auf. "Vielen Dank für Ihre Hilfe, Karev, aber ich gehe jetzt wieder an die Arbeit. Das sollten Sie auch tun.", waren ihre Worte, ehe sie ebenfalls, wie Ethan vor einigen Momenten, den Raum verließ.

Am Nachmittag kam Addison nach Hause und setzte sich seufzend auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie wusste, sie war eine gute Ärztin. Und einen Patienten zu verlieren, war immer schwer, schon immer schwer gewesen. Vor allem bei Säuglingen, diese unschuldigen kleinen Menschen, die oftmals, wenn sie ihr Leben ließen, nicht mal eines hatten. Nach einigen Minuten rappelte sie sich auf und ging hoch, zu Alianore's Zimmer und klopfte leise an.

Alianore lag auf ihrem Bett und las, als sie Addison in's Zimmer bat und das Buch sinken ließ. "Hey Kleine. Wie geht es dir heute?", begrüßte die Mutter ihre Tochter und setzte sich zu ihr ans Bett. Die Sechzehnjährige musterte ihre Mom. "Du hast einen Patienten verloren, stimmt's?", fragte sie leise.

Addison wusste, wie gut ihre Tochter sie kannte, doch überraschte es sie jedes mal erneut, wenn diese als Einzige genau wusste, was in ihr vorging. Auch wenn sie es nach außen noch so gut verbergen konnte, dem Teenager konnte sie nichts vormachen. Also nickte die Gynäkologin.

"Zwei, um genau zu sein", seufzte sie, "eine junge Mutter und ihr Kind."
"Das tut mir leid... Wirklich... ", antwortete Alianore ihr.
Sie war zwar noch immer böse auf Addison und Mark, aber das war jetzt nicht relevant. Sie konnte auch später noch wütend sein, aber jetzt, jetzt in diesem Moment, wusste sie, dass ihre Mutter spüren wollte, dass es ihr gut ging. Zwar durch den Unfall den Umständen entsprechend, aber gut. Sie lebte.

Immer, wenn Addison ein Ungeborenes oder einen Säugling, welcher ihr Patient war, verlor, kam sie noch am selben Tag zu ihr um sich zu vergewissern, dass es ihrer Tochter gut ging. Sie tat das schon, seit Ally ein kleines Baby war, doch jetzt gerade, nachdem sich das Leben ihrer Tochter von einem auf den anderen Tag verändert hatte und sie, Addison selbst, solche Angst um ihr eigenes Kind haben musste, war es ihr ein noch größeres Bedürfnis, sicher zu gehen, dass Alianore wohlauf war und es ihr an nichts fehlte. Es konnte doch so schnell vorbei sein.

Und während Mutter und Tochter zusammen im Haus saßen und sprachen, ahnten sie nicht, dass in unmittelbarer Nähe, nämlich in einem Auto, unscheinbar am Straßenrand, ein junger Mann saß, welcher heute seine Familie verloren hatte und Addison vom Krankenhaus aus gefolgt war. Und er hatte sich geschworen, das nicht so auf sich sitzen zu lassen.

Er wollte Rache. Rache für seinen Verlust. Er wollte, dass jemand sich genau so fühlte, wie er sich jetzt fühlte. Und er hatte einen Schuldigen auserkoren.

Oder sollte man es lieber eine (Un)Schuldige nennen?


BelievingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt