"Gone"

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Alianore saß auf ihrem Bett und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Schwanger. Ihre Mutter war schwanger von ihrem Vater.
Wieder nicht gewollt, wieder im falschen Moment, im viel zu späten Alter.

Das Mädchen drehte sich vorsichtig auf die Seite und sah das Bild an, welches sie und ihre Mutter zusammen mit ihren Großeltern und ihrem Onkel Archer zeigte. Das Foto, auf welchem sie alle sorglos lächelten, entstand vor knapp einem Jahr in Connecticut, zu Hause bei dem Captain und Bizzy im Wohnzimmer der großen Villa.
"Ich will nach Hause." wimmerte das Mädchen und schluckte den großen Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, hinunter. Was gäbe sie dafür, mit ihrem Großvater oder ihrem Onkel sprechen zu können.
Sie sah auf das Telefon.

Die Nachrichtentaste leuchtete auf.
Ein. Aus. Rotes Licht an. Wieder aus.
Wie gebannt sah sie auf die Taste, die immer wieder rot flackerte. Was, wenn es nun wieder er wäre?
Der Teenie nahm das Telefon und und sah, dass Maya angerufen hatte.

Maya, ihre beste Freundin, mit welcher sie eigentlich über alles sprach. Doch sie konnte nicht darüber sprechen. Maya hatte diesmal im falschen Moment angerufen.
Bevor Alianore sich überlegen konnte, ob sie einen Rückruf tätigen sollte, fing das Telefon in ihrer Hand an zu klingeln.
Maya.

"Hey.", begrüßte Ally ihre Freundin und wusste genau, dass diese hören konnte, dass etwas nicht stimmte.
"Ihr habt euch gestritten?!", wusste die andere sogleich.
Streit zwischen Alianore und Addison war selten, aber wenn sie sich stritten, dann richtig. Beide konnten sie gut argumentieren und keine der beiden wollte nachgeben.
"Wir haben uns gestritten, ja. Ich habe ihr vorgeworfen, sie sei schuld an meinem Unfall.", erklärte Ally.
"Ach, Ally... Und mit deinem Vater... funktioniert das besser? Du hast dich zwei Wochen nicht mehr gemeldet, ich dachte, dir ist was passiert.", meinte Maya.

Alianore erschauderte. Was passiert.

Wenn du irgendjemandem etwas erzählst, passiert etwas.

Die Worte auf dem Brief geisterten in ihrem Kopf herum. Sie musste mit ihrer Mutter darüber reden.
"Ally?", fragte Maya besorgt am anderen Ende der Leitung.
Alianore antwortete nur noch beiläufig und halbherzig, sodass Maya, die ja nicht im geringsten ahnte was los war, das Gespräch irgendwann genervt beendete.

Ally wachte auf, als es draußen stockdunkel war.
Ihr Wecker zeigte elf Uhr am Abend an.
Wo war Addison?
Sie wollte doch wiederkommen.

Alianore nahm das Telefon und rief im Erdgeschoss an, doch auch die Haushälterin war wohl nicht mehr da. Komisch. Sie blieb immer solange, bis Addison nach Hause kam, ihr das Trinkgeld für die zusätzliche Arbeit mit der Blonden gab und ging dann erst.
Verärgert wählte das Mädchen die Nummer ihrer Mutter auf ihrem Handy, jedoch hob Addison nicht ab.

"Wahrscheinlich feiern sie gerade ihr Baby.", überlegte sie laut und missmutig.
Sie legte das Handy auf ihre Matratze und überlegte, was sie tun wollte.
Eine Stunde später war Addison immer noch nicht zurück.

Unterdessen saß Mark auf dem Sofa, hatte ein Glas Wein allein geleert und das Essen, welches er für sich und Addison bestellt hatte, selbst verspeist.
Mark hatte sich bis vor einer Stunde noch keine Sorgen um seine Freundin gemacht, doch jetzt, um Mitternacht, bekam er ein komisches Gefühl im Bauch.

Auch er versuchte vergeblich mehrmals, die Rothaarige zu erreichen.
Im Krankenhaus wurde ihm gesagt, dass Addison dieses vor einigen Stunden verlassen hatte, die Haushaltshilfe, welche er auf dem Handy erreichte, bestätigte ihr, von Addison eine SMS bekommen zu haben, gehen zu können, weil es später wurde.
Seufzend wählte er die Nummer vom Haustelefon der Forbes- Montgomery' s. Ob seine Tochter mit ihm sprach, wusste er nicht.

"Hallo, leg bitte nicht auf, hier ist Mark.", fing er vorsichtig an zu sprechen, als Alianore abnahm und ihren Namen gesagt hatte.
"Was wollen Sie? Meine Mutter ist nicht hier.", blaffte das Mädchen.
"Was?", fragte Mark und klang dabei etwas zu erschrocken.
Sofort gingen die Alarmglocken des Mädchens an.
"Sie ist auch nicht mehr bei Ihnen?", fragte sie nur.
"Sie war nie hier, ich dachte, sie redet mit dir.", meinte Mark und fing beim Telefonieren an, sich Jacke und Schuhe anzuziehen.
"Nein, nein, wir... wir haben uns heute gestritten, sie wollte etwas mit Ihnen besprechen und noch vor Mitternacht zurück sein.", erklärte das Mädchen, egal, ob er nun wusste, warum Addison gegangen war oder nicht.

Mark sah aus dem Fenster und ließ fast das Handy fallen, als er den schwarzen Mercedes seiner Freundin am Straßenrand erblickte.
Er verließ das Haus und ging um den Wagen herum.
Er war abgesperrt und ordnungsgemäß geparkt.

"Sloan?", meldete sich Ally am anderen Ende der Leitung.
Mark konnte wieder nicht antworten. Er hatte etwas unter dem Auto gesehen und bückte sich, um es aufzuheben.
Addison' s Handtasche von Hermès.
Er wusste, die Frau würde niemals freiwillig ohne ihre Handtasche irgendwo hingehen und schon gar nicht würde sie diese einfach unter dem Auto liegen lassen. Als er ihr Handy in der Tasche fand, wusste er, dass etwas nicht okay war.

"Ally, hör mir zu, ich bin sofort bei dir.", meinte Mark.

Ein wenig später stand der Mann im Zimmer seiner Tochter, welche protestierte.
"Es ist mitten in der Nacht, verschwinden Sie, Sloan.", wetterte sie, doch er sah, dass auch das Mädchen angespannt war.
"Wann hast du deine Mutter zuletzt gesehen?", fragte er unberührt von ihrer abweisenden Art.
"Vor ungefähr sieben Stunden.", rechnete das Mädchen. Gegen sechs war Addison gegangen, jetzt war es fast ein Uhr morgens.
Mark seufzte und setzte sich zu ihr ans Bett. Erschrocken wich sie zurück.

"Ally, das Auto deiner Mom steht bei mir vor der Haustür, ich habe ihre Handtasche unter dem Wagen gefunden, in der Tasche ist ihr Handy.", sagte Mark und musterte das Mädchen.
Ally entglitten alle Gesichtszüge.
"Sie... würde nie ohne Tasche oder Handy weggehen...", wusste auch das Mädchen.
"Ich rufe die Polizei.", sagte Mark und setzte sein Vorhaben sofort in die Tat um.

Einige Minuten später waren zwei Polizisten eingetroffen, nicht ohne Druck von Mark, der oft drohen und versichern musste, dass Addison nicht einfach so verschwinden würde.

Die Männer sahen in Addison's teure Handtasche.
Mark, welcher mit beiden unten in der Küche war, sah ihnen ungeduldig auf die Finger.

"Hat sie ein Stofftaschentuch dabei?", fragte einer der Männer.
Mark schüttelte den Kopf, er wusste es nicht.
Der Polizist roch an dem Tuch.
"Wir brauchen Verstärkung, die Frau wurde wie es scheint betäubt.", sagte er zu seinem Kollegen.
Mark glaubte nicht, was er hörte.
"Wann haben sie die Frau das letzte mal gesehen?" fragte der Kollege.
"Heute Nachmittag, ganz kurz, sie war mit ihrer Tochter im Krankenhaus zur Nachuntersuchung.... Alianore... Oh Gott... Das Mädchen... Sie ist oben...", stammelte Mark.
Der Polizist nickte.
"Können Sie mit ihr reden? Sie müssen jetzt ruhig bleiben und Ruhe bewahren. Wir müssen überall Spuren sichern. Haben Sie ein Foto von Dr. Montgomery?", fragte der Polizist.
Mark kramte in seinem Portemonnaie und gab ihm ein Bild von Addison.
Der Mann nickte.
"Wir leiten das weiter und geben eine Suchmeldung raus. Wir finden sie, Dr. Sloan." meinte der Polizist zuversichtlich.

"Was... was ist hier los?"
Die dünne Stimme des Mädchens, welches unter großer Anstrengung allein nach unten gekommen war, ließ alle innehalten.
Jetzt lag es an Mark. Zum ersten Mal musste er seine Qualitäten als Vater zeigen.

"Ally... deine Mom... Deine Mom wurde wohl überfallen und gekidnappt.", meinte Mark, ganz ehrlich und ohne große Umschweife.

Er trat einen Schritt auf das Mädchen zu, welches im nächsten Moment das Gleichgewicht auf den Gehstützen verlor und von der letzten Treppenstufe aus in seine Arme fiel.
Statt zu versuchen, von ihm wegzukommen, fing sie bitterlich an zu weinen. Sie beruhigte sich lange nicht.

Die Polizisten versicherten, alles zu tun und sich umgehend zu melden, wenn etwas Neues ermittelt wurde. Sie boten an, dass Alianore psychologisch betreut werden konnte.
Mit allen Beweismitteln verließen sie das Haus und auch den potentiellen Tatort, welcher von der Spurensicherung ebenfalls begutachtet wurde. Es war nun keine Frage mehr, dass es sich hier um ein Verbrechen handelte.

Mark stand da, seine Tochter immer noch in den Armen haltend.
Instinktiv wusste er, was er tun sollte. Er fühlte sich entgegen seiner Erwartungen nicht hilflos im Umgang mit dem Mädchen. Er musste jetzt so gut es ging für sie da sein, auch, wenn sie das nicht zulassen würde.

Er war ihr Vater und er liebte ihre Mutter. Und sie. Die Sechzehnjährige, welche sich hilflos an ihn klammerte. Das Mädchen, welchem unentwegt Tränen über das Gesicht liefen. Das Mädchen, welches seinen Kopf an seine Brust gelegt hatte. Das Mädchen, seine Tochter, welche ihn zum ersten Mal in ihrem Leben brauchte. Sie sah ihrer Mutter doch so ähnlich.

Beim Gedanken an Addison zog sich sein Magen zusammen. Wo war sie nur? Was war ihr zugestoßen?
Er nahm Ally behutsam hoch und trug sie zurück in ihr Zimmer, legte sie dort vorsichtig in ihr Bett.

Aus rot verweinten Augen sah sie in hilflos an. Die Tränen waren aufgebraucht, sie konnte nicht mehr weinen.
"Was.. was ist wenn sie nie wieder kommt? Wenn ihr jemand was angetan hat?", fragte Alianore leise.
Sie zitterte am ganzen Leib und war leichenblass.
Das Mädchen stand unter Schock.

"Ich lass dich nicht alleine, meine Kleine, ich passe auf dich auf.", sagte Mark immer wieder leise, was von dem Mädchen, welches ins Leere starrte, mit einem Nicken beantwortet wurde. Vorsichtig strich er ihr übers Haar, bis sie schließlich völlig erschöpft einschlief.

Gerade war sie nicht die arrogante, allwissende, verletzte Sechzehnjährige, gerade war sie ein kleines Mädchen, sein kleines Mädchen, welches unendliche Angst davor hatte, seine Mutter nie wieder zu sehen. 


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