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Ich drehte mich schnell um und lief zum Klassenzimmer. Ihren Anblick wollte ich mir jetzt wirklich ersparen. Ziemlich aus der Puste, weil unser Zimmer im zweiten Stock lag und ich mehrere Treppen hinauf gehetzt war, erreichte ich den Raum und liess mich erleichtert auf meinen Platz neben Nelly fallen. "Hast du einen Geist gesehen, oder die Lust verspürt, einen Marathon zu laufen?", fragte sie ohne den Blick von ihren Hausaufgaben abzuwenden. Sie war vielleicht die Letzte in unserem Jahrgang, die ihre Hausaufgaben noch selbst machte, alle anderen schrieben sie entweder ab, oder machten sie überhaupt nicht. So wie ich es jetzt auch vorhatte, wie jeden Morgen. "Eher einen Geist gesehen, aber schlimmer.", seufzte ich und holte mein Zeug aus dem Rucksack, den ich vorher auf den Tisch fallen gelassen hatte. Nelly hob kurz ihren Blick, um mich stirnrunzelnd anzusehen und drehte dann den Kopf zur Tür. In diesem Moment kam der besagte Geist lachend, mit ihren zwei Hündchen im Schlepptau, ins Zimmer. Emma und Lilly hatten sich, nachdem Chaya mit mir Schluss gemacht hatte, wieder voll an sie drangehängt und sich ihr untergeordnet. Was auch immer sie ihnen erzählt hatte, es schien sie in besonders gutes Licht zu rücken. Nelly nickte wissend und schrieb den letzten Satz fertig, bevor sie ihr Heft zu mir schob und sagte: "Bei dem Anblick wäre ich auch weggerannt." Ich lachte kurz auf und machte mich dann daran, ihre schön geschriebenen Worte mit meiner Sauklaue abzuschreiben.

Auf dem Weg zur Cafeteria erzählte mir Nelly, was in ihren Ferien alles passiert war und machte sich über Cole, einen Jungen aus unserer Klasse, lustig. Ich wollte es wirklich, doch ich konnte ihr nicht richtig zuhören. Meine Aufmerksamkeit galt den anderen Schülern, die sich durch die Massen kämpften, um noch einen Platz zu ergattern, oder ihren Bus zu erwischen. Gekonnt ignorierte ich die Tatsache, dass ich Clarke niemals unter all diesen Leuten entdecken würde und suchte nach ihr. Ich vergass dabei aber einen wichtigen Punkt. Was würde ich machen, wenn ich sie gefunden hatte? Zu ihr hin rennen und sagen: 'Hey, ich hab dich gesucht.'? Ganz bestimmt nicht, ich hatte ja gar keinen Grund dazu. Als wir durch die Tür zur Cafeteria traten, stupste mich Nelly an und nickte zu einem der Tische, an dem Chaya mit einigen Leuten sass, die ich nicht kannte. "Die starren dich an. Tu so, als hättest du sie nicht gesehen.", flüsterte sie und lief weiter zur Essensausgabe. Tatsächlich hafteten neugierige Blick an mir, während ich mir ein Tablett holte. "Wenn das nicht bald aufhört, bekomm ich die Krise.", raunte ich Nelly zu, als wir uns einen Platz suchten. Der ganze Raum war gefüllt mit laut grölenden Typen und schrill lachenden Mädchen. Und uns. Das war echt zum kotzen. Nicht einmal die Lehrer wollten mehr hier essen, sie konnten sich ja sowieso nicht durchsetzen. Der Platz, den wir uns schlussendlich ergatterten, lag am Rand der Cafeteria, an einem Tisch mit ein paar Jungs der Schülervereinigung. Sie trugen alle ein rotes Jackett und viel zu viel Gel in den Haaren. Wenn hier in der Umgebung eine gute Party gefeiert wurde, dann von ihnen, im Haus ihrer reichen Eltern. Da gingen immer alle hin, aber die Namen der Jungs kannte keiner. Sie ignorierten unsere Anwesenheit trocken und unterhielten sich weiter über teure Autos. Während wir assen, starrte Nelly immer wieder zu Chayas Tisch hinter mir und runzelte die Stirn. "Was denkst du, was hat sie ihnen erzählt?", murmelte sie irgendwann mit vollem Mund und riss ihren Blick nicht von diesem Rätsel los. "Ich weiss es nicht, aber, dass du die ganze Zeit da hin starrst, macht mich nervös.", seufzte ich genervt und schob mir eine Gabel Spaghetti in den Mund. "Entschuldigung, ich bin nur so neugierig. Wehe sie hat dich irgendwie schlecht geredet. Ich geh sie verprügeln." Chaya erntete einen Killerblick, was mich zum lachen brachte. "Das kannst du doch auch so." Nelly schaute zu mir und grinste. "Da hast du recht."

Bald darauf sassen wir wieder im Unterricht. Eine Papierkugel traf meinen Kopf und fiel dann fast lautlos auf den Boden neben meinem Stuhl. Ich drehte mich um und suchte misstrauisch nach dem Schützen, aber niemand benahm sich auffällig. Meine Augenbrauen zusammengezogen hob ich die Kugel auf und entfaltete sie wieder.

"Hab gehört, dass Chaya nur mit dir gespielt hat. Wie fühlt sich das an, du Lesbe?"

Sofort wurde mir heiss und mein Herz fing an, zu klopfen, als wolle es aus meiner Brust herausbrechen. Ich schaute noch einmal nach hinten, doch alle hatten ihren Blick auf ihre Tische, oder nach vorne gerichtet. Wer war das? Schnell fuhr mein Körper wieder nach vorne und meine Fingern umklammerten zitternd das Stück Papier. Es fühlte sich an, als würde ich plötzlich triefen vor Schweiss und mein Gesicht brennen. Nelly sah kurz zu mir und merkte, dass irgendwas war. Fragend stiess sie meinen Ellbogen an und ich schob ihr einfach lautlos den Zettel rüber. Ihre Reaktion, ein lautes, empörtes Schnauben, liess die anderen um uns herum ihre Köpfe heben. Mein Blick hing krampfhaft an der Wandtafel fest. "Ich bring sie sowas von um.", presste Nelly zwischen ihren Zähnen hervor. Ich sagte nichts und auch, als das bekannte Klingeln erklang, machte ich keinen Mucks. Ich packte schnell zusammen und lief zum Parkplatz, ohne Nelly Tschüss zu sagen, die mit gehobenen Armen im Gang stehen blieb, als ich davonlief. Bei Matts Auto angekommen lehnte ich mich daran und legte den Kopf hinter mir aufs Autodach, die Augen geschlossen. Ich musste mit den Tränen kämpfen, es tat weh. Hatte sie wirklich nur mit mir gespielt? Nur so getan, um sich über mich lustig zu machen. Damit mich alle auslachen konnten, weil ich auf Frauen stand. Oder hatte sie wirklich einmal etwas für mich gefühlt? Aber wieso erzählte sie dann so eine riesige Scheisse herum. Meine Arme und Beine fühlten sich so schwer an, dass ich mich hinsetzen musste, direkt vor das Auto meines Bruders. Und genau der trat soeben mit ein paar Freunden aus der Schule und lachte, bis er mich sah. Sofort sanken seine Mundwinkel nach unten und eine tiefe Falte bildete sich auf seiner Stirn. Er verabschiedete sich von seinen Freunden, ohne sie anzusehen und kam zu mir herüber. "Was ist passiert?", fragte er besorgt und kniete sich zu mir hinunter. Ich schluckte den Kloss in meinem Hals hinunter und stand auf. "Können wir einfach nach Hause fahren?" Ich wollte nicht schon wieder wegen ihr heulen. Das musste endlich ein Ende haben. Matt stand ebenfalls auf und öffnete mir die Beifahrertür ohne etwas zu erwidern. Er würde es ja sowieso bald erfahren, bestimmt wusste es schon die ganze Schule. Da würde es nicht mehr lange dauern, bis es zu ihm durchdrang.

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