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Mein Starren wurde von der Klingel unterbrochen, die ankündigte, dass der Unterricht in zehn Minuten beginnen würde. Um einen klaren Kopf zu bekommen schüttelte ich ihn und fegte somit Clarkes Bild aus meinen Gedanken. Mit etwas Schwung stiess ich mich von meinem Spind ab und schulterte meinen Rucksack. Die Situation von gerade eben war mir so unangenehm, dass ich den Entschluss fasste, später, in einer der Pausen, noch einmal mit Clarke zu reden. Ganz normal, ohne mich zu blamieren, weil meine Worte über sich selbst zu stolpern schienen. Ich wusste gar nicht, wieso mir das vorher so schwer gefallen war. Ja, ihr Anblick und die Gewissheit, dass ich irgendwie Gefühle für sie entwickelt hatte, hatten mich ein Bisschen aus der Bahn geworfen. Schliesslich war das alles ziemlich plötzlich passiert und ich hatte nicht von Anfang an ein Auge auf sie geworfen. Oder vielleicht doch? Ach, ich war mir bei gar nichts mehr ganz sicher.

Meine Füsse trugen mich wie von selbst zu Zimmer 351, in dem ich gleich eine Doppelstunde Deutsch haben würde. Enttäuscht von mir selber, ging ich mit gesenktem Kopf die Treppen hinauf und gleich darauf ins Zimmer hinein. Nelly hatte schon einen Platz am Fenster für mich besetzt, auf den ich mich dankbar fallen liess. Im Neubau stank es immer fürchterlich nach ein paar Stunden und so war es nur erträglich, wenn man am geöffneten Fenster sitzen konnte. Mit dem gleichen Gedanken trat Pete, ein Junge aus meiner Klasse, mit dem ich mich ganz gut verstand, hinter mich und riss das grosse Schiebefenster auf. Sofort strömte frische, kühle Luft in den Raum und ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Reihen. Marc, ein Freund von Pete klatschte begeistert Beifall, um wie immer den Klassenclown zu mimen. Pete verbeugte sich lachend und setzte sich wieder auf seinen Platz. Einige aus der Klasse lachten leise, Andere hatten gar nicht mitbekommen, was eigentlich passiert war und hoben nur verwirrt ihre Köpfe. Mein Blick, wahrscheinlich total demotiviert, wanderte aus dem Fenster und zum Hof.

Wie es das Schicksal wollte, schlenderten dort gerade Liv und Clarke lachend ins Gebäude gegenüber. Schon wieder dieses kleine Stechen in meiner Brust, ich fühlte mich total verarscht. Es konnte doch nicht sein, dass ich die beiden genau heute fast pausenlos ins Gesicht gedrückt bekam. Kopfschüttelnd drehte ich mich wieder nach vorne und seufzte, nicht ohne einen fragenden Blick von Nelly zu ernten. Ich antwortete ihr nicht, dazu hatte ich schlicht keine Lust. Vielleicht würde ich es ihr nachher erzählen. Vielleicht auch nicht. Es verwirrte mich selbst noch viel zu sehr, als dass ich es jemand anderem erklären könnte. Ich würde damit leben müssen, Clarke und ihre Flamme dauernd so glücklich zu sehen. Irgendwann würde ich mich schon daran gewöhnen. Mit neu gewonnener Zuversicht setzte ich mich gerade hin und packte meine Sachen aus, als gerade unser Deutschlehrer herein kam und uns mit seiner tiefen Stimme begrüsste.

Es hatte angefangen zu regnen, die schweren Tropfen prasselten ohne Unterlass gegen die Fensterscheibe meines Zimmers. Ich liebte dieses Wetter. Schon seit bestimmt zehn Minuten sass ich auf meinem Bett und schaute dem Treiben draussen zu, wie die Pfützen im Garten grösser wurden. Es war beruhigend, zu diesem Schluss kam ich immer wieder. Hinter dem Garten lag das Haus unserer Nachbarn, ein junges Ehepaar mit Hund. Sie waren vor ein paar Monaten eingezogen und hatten sich uns bald, mit einer Dose Keksen, als India und Clyde vorgestellt. Ja, sie waren das Klischee schlechthin, aber ich fand sie trotzdem wirklich nett. Ihr Wohnzimmerfenster lag meinem genau gegenüber, sodass ich fast gezwungener Massen ihren Abend beobachtete. Sie sassen am Tisch und assen etwas, das aussah wie ein Fünf-Sterne-Menu aus dem Fernsehen, unterhielten sich und lachten eigentlich ständig. Ihr Hund Milo lag an der Terrassentür auf einer Decke und musterte, wie ich zuvor, die Pfützen. Diese ganze Szenerie, die sich mir bot, sah aus wie ein Bilderbuch, gemütlich, warm und irgendwie einladend. Ich war neidisch, auch wenn ich es sicher abstreiten würde, wenn mich jemand danach fräge. Ich wollte etwas, das sich genauso anfühlte, wie 'zu Hause'. Und dann dachte ich an Clarke und, sobald ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, verwarf ich ihn wieder. Ich knüllte ihn zusammen wie ein Blatt Papier und wollte ihn weit weg werfen, in einen Mülleimer mit Deckel, sodass ich ihn nie wieder sehen würde. Aber ich verfehlte und das Knäul landete, zusammen mit mir, auf dem Boden der Tatsachen. Ich war nunmal völlig verknallt in meine beste Freundin. Jetzt war es sogar schon soweit gekommen, dass ich mir ein Leben mit ihr, in einem gemeinsamen Haus, wünschte. Dabei war ich mir doch bewusst, dass es nie dazu kommen würde. Ich seufzte enttäuscht und rollte mich auf den Rücken. Frustriert hob ich meine Arme und liess sie sofort wieder auf die Matratze neben meinen Körper fallen. Es war eine nie endende Spirale der Verzweiflung und ich konnte mich selbst nicht mehr jammern hören. Die Lösung für mein Problem war naheliegend; Ablenkung. Ich musste mich unter die Leute mischen, das war mir klar, neue Bekanntschaften machen, vielleicht sogar ein One Night Stand, auch, wenn das so gar nicht meine Art war. Also tat ich so, als wäre es ganz einfach und schrieb Nelly.

Hey du, ich weiss das kommt spontan und so, aber Lust Party zu machen am Wochenende?

Da sie Partys, zu laute Musik und Alkohol abgöttisch liebte und sowieso dauernd an ihren Handy sass, antwortete sie mir kurz darauf, mit ganz vielen Emojis und Ausrufezeichen, dass sie natürlich Lust dazu hätte. Jetzt war es also abgemacht. Ich hatte jetzt schon Zweifel, ob es funktionieren würde? Den Teufel an die Wand malen war eine meiner Stärken, ich war wirklich unschlagbar darin. Ich hatte mich da in etwas hineingeritten, aus dem ich sicher nicht mehr hinaus kam. Partys, beziehungsweise Clubs, waren überhaupt nicht mein Ding, aber Nelly würde mich nicht mehr absagen lassen. Ich musste da durch, immerhin hatte ich es mir selbst eingebrockt. Und es war nur das Beste für mich.

Ich schlief an diesem Abend schnell ein. Vielleicht lag es am Regen, der noch immer seinen Rhythmus ans Fenster klopfte, vielleicht aber auch an der Erschöpfung, die sich langsam aber sicher in meinem Körper ausgebreitet hatte. Das ständige Nachdenken war anstrengend und das Konzept, auf jemanden zu stehen,  schien mir plötzlich gar nicht mehr so toll zu sein, wie alle immer behaupteten.

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