Kapitel 1 - Und das Schicksal lacht

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Das Schicksal kündigt sich nicht an. Man weiß nicht, ob man an jenem Tag vielleicht von einem Auto angefahren wird, über eine Katze stolpert oder auf die Liebe seines Lebens trifft. Man weiß auch nicht, ob die beiden Männer, die in diesem Moment den eigenen Blumenladen betreten und die Glocke über dem blauen Schild mit der Aufschrift „Min Flowers" zum Bimmeln bringen, ausgerechnet die Jäger sind, vor denen man sich sein ganzes Leben versteckt hat. Und man weiß nicht, dass man seinen Sohn an diesem Morgen das letzte Mal gesehen hat. All das weiß man nicht. Und das Schicksal lacht.

*

„Wir hätten gerne einen zusammengestellten Blumenstrauß mit... verdammt. Was waren Seokjins Lieblingsblumen, Jungwoo?" Der eine Mann sah seinen Begleiter an. Beide waren in Anzügen gekleidet und jede Haarsträhne ihrer dunklen Haare saß perfekt.

Sein Freund zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich es denn wissen, Jaemin? Rede ich mit Seokjin darüber, was seine Lieblingsblumen sind? Also echt. Kauf ihm einfach Rosen".

„Entschuldigen Sie, sprechen wir hier von dem Seokjin? Kim Seokjin, dem erfolgreichen Pharmazieunternehmer, der mit seinen Medikamenten die Medizin revolutioniert hat?", fragte der Mann hinter der Kasse nach.

Die beiden Männer tauschten einen Blick aus. „Ja, warum?", fragte Jungwoo.

Aufgeregt machten der Blumenmann und seine Frau sich ans Werk. „Ich verspreche Ihnen, das wird der schönste Blumenstrauß, den er je bekommen hat."

Der Strauß war fast fertig, als sich die Frau beim Zurechtstutzen der letzten Blumenstiele in den Finger schnitt. Ein fataler Fehler, der ihr normalerweise nicht unterlaufen wäre. Aber ein so ranghoher Kunde machte sie aufgeregt. Abgesehen davon, dass sie sich über jeden der wenigen Kunden freuten, war einer in einer solch hohen Position es wert, sich besonders viel Mühe zu geben.

Einem anderen wäre die leichte Panik in ihren Augen nicht aufgefallen, als sie sich mit einer Entschuldigung in das Hinterzimmer zurückzog, den Schnitt mit der anderen Hand verdeckend. Doch die Männer waren geübt darin, aufmerksam zu sein. Ihnen entging die durchsichtige Flüssigkeit an der Schnittwunde genauso wenig wie das nervöse Zittern des Ehemannes.

Lass dir nichts anmerken, gab Jungwoo seinem Kollegen mit einem Blick zu verstehen. Jaemin nickte. Die beiden bezahlten und begaben sich mit ihrem Strauß in der Hand zu ihrem direkt vor dem Laden geparkten Wagen. Noch am Lenkrad schickte Jaemin seinem Vorgesetzten eine SMS. Jungwoo kramte im Kofferraum und schob dann sein Gesicht an das Fenster.

„Huch? Willst du nicht einsteigen?"

„Es war schön mit dir zu arbeiten, Jaemin. Auch wenn deine Dummheit manchmal wirklich weh getan hat." Etwas Kaltes traf Jaemins Stirn.

„Verdammte Scheiße, Jungwoo. Was soll das? Nimm die Waffe runter!"

Jungwoo presste den Lauf seiner Pistole fester an Jaemins Gesicht, immer noch sein krankes Grinsen auf den Lippen. „Ich würde ja sagen, es tut mir leid, aber lass mich überlegen. Hm. Das tut es nicht. Und tschüss".

Der Schuss hallte auf der ganzen Straße wider. Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Genervt schmierte sich Jungwoo das warme Blut seines Kollegen aus dem Gesicht, schnappte sich den Kanister, welchen er gerade aus dem Kofferraum geholt hatte, und trat die Ladentür ein, die Waffe bereit. Der Blumenmann war nicht zu sehen.

Soll er sich doch verstecken. Hier kommt er heute lebend nicht wieder raus. Mit geübten Bewegungen brachte er mit dem Benzin die Pflanzen zum Brennen. Das Wichtigste war es, erst ihre Machtquelle zu zerstören. Dann kämpfte sich durch den Rauch zum Hinterraum, zerschoss die Klinke, trat die Tür ein - und eine Aloe Vera klatschte ihm die Waffe aus der Hand. „Was zur Hölle..."

Das Hinterzimmer war vollgestopft mit Pflanzenkübeln, Erde polsterte den Boden und unzählige Blumenstiele wanden sich wirbelnd in die Höhe, bereit, ihn anzugreifen. Shit. Und im Zentrum: die Blumenfrau mit erhobenen Armen und vor Wut zitternd.

„Flieh! Ich halte ihn auf!", schrie sie. Bevor ihr Ehemann hinter ihrem Rücken hervorkriechen konnte, landeten zwei von Jungwoos Wurfsternen in ihren Beinen. Mit einem Keuchen fiel sie auf die Knie und Jungwoo schickte gleich zwei weitere Sterne in ihre Brust. Mit aufgerissenen Augen schlug sie seitlich auf den Boden auf.

„Nein!" Schluchzend wollte sich der Mann auf seine Frau werfen, doch Jungwoo trat ihn weg. Rotes Blut spritze auf, als er ihm mit seinem Messer den Bauch aufschlitzte. Er ist also nicht zu gebrauchen. Nichts wie weg hier. Die Zeit lief ihm davon, er konnte im vollgerauchten Raum kaum noch sehen. Jungwoo wollte sich auf die Frau stürzen und sie wegbringen, als plötzlich eine dornige Rose seinen Hals umschlang.

„Denkst du wirklich, dass ich mich kampflos ergebe?", keuchte sie. Sie war über das laute Knacken der Flammen kaum zu verstehen. Mit letzter Willenskraft verstärkte sie vor Schmerzen schreiend den Dornengriff. Jungwoo spürte, wie sich die Pflanze fester um seinen Hals schlang, wie die dünne Haut aufriss und wie sein Blut warm seinen Hals hinunterlief. Seine Hände wurden zerfetzt als er vergeblich versuchte, sich aus dem Würgegriff zu befreien. Erstickend sah er, wie sich der Brustkorb der Frau ein letztes Mal hob, sah, wie das Feuer den Raum einnahm, wie die Flammen über die Pflanzen leckten, wie sie alles verschlangen und er sah, wie das wunderschöne, durchsichtige Blut der Frau den Boden tränkte. So sollte es also enden. Das war der Preis für seine Gier und seine Ungeduld. Dann wurde Jungwoo schwarz vor Augen.

Als die Feuerwehr endlich eintraf, war kein Leben mehr im Blumenladen der Familie Min. Die Glocke über dem verrußten Schild mit der Aufschrift „Min Flowers" würde nie mehr bimmeln.

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