Kapitel 1/4

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Nachdem er die Tür wieder hinter sich geschlossen hat, blickt er mich amüsiert an.

„Wohin werde ich denn entführt?", frage ich etwas provokant. Sein Lächeln wird breiter.

„Ich dachte, du hättest jetzt vielleicht Hunger? Wir haben Sandwiches und Eier."

Mein Kribbeln im Bauch verändert sich nun zu einem zustimmenden Knurren.

„Sehr gerne!"

Wir gehen die Treppen hinab und in das Esszimmer. Aelfric weist mich an, Platz zu nehmen, und verschwindet im Nebenraum, der Küche, wie ich jetzt weiß. Ich setzte mich gegenüber dem Stuhl, auf dem Aelfric zuvor saß, links neben dem Kopfendende. Plötzlich ertönt aus einem anderen Raum wunderschöne Klaviermusik. Ich schließe meine Augen und lausche ihr, sie berührt mich schon nach nur ein paar Tönen. Sie hat einen melancholischen, sehr emotionalen Charakter. Das Lied beginnt zuerst langsam und wird immer schneller. Es reißt mich richtig mit. Diese Musik habe ich noch nie zuvor gehört, sie muss von einem unbekannten Künstler stammen.

„Gefällt dir die Musik?"

Aelfric steht mit einem großen Teller mit wunderbar aussehenden Sandwiches und Spiegeleiern vor mir. Er stellt den Teller vor mir ab und legt mir Besteck daneben.

„Wow, vielen Dank, das sieht total lecker aus! Ja, die Musik ist wunderschön."

„Gerne doch", sagt Aelfric und setzt sich mir gegenüber, „hoffentlich schmeckt es auch."

Ich beginne zu essen, es schmeck fantastisch. Aelfric schaut mir interessiert zu. Mir ist das etwas unangenehm.

„Isst du nichts?"

„Nein, ich frühstücke nicht."

Er beobachtet mich weiter.

„Von wem ist denn die Musik? Ich kenne den Künstler nicht, aber sie ist so bewegend."

„Raedwulf spielt, er hat die Lieder selbst komponiert."

Ich bin beeindruckt. In ihm steckt also eine wahre Künstlerseele.

„Das muss sehr viel Arbeit gewesen sein. Er spielt bestimmt schon lange."

„Ja, aber rede am besten mit ihm darüber, ich kann dir nicht ansatzweise all die Systematiken und Konzepte dahinter erklären."

Sein Blick durchbohrt mich, als würde er versuchen, in mich hineinzuschauen. Mir stockt der Atem und ich verschlucke mich fast an meinem Essen. Seine braunen Augen verwirren mich, das gefällt mir nicht. Wenn er mich so anschaut, macht mein Körper seltsame Dinge mit mir, ich habe mich dann nicht mehr unter Kontrolle.

„Verzeihung", sagt er, als wüsste er genau, was ich denke, „Welche Kurse willst du an der Uni belegen? Vielleicht haben wir ja manche zusammen."

Ich esse meinen Bissen fertig, dann antworte ich: „Hier gibt es Kurse, die ich sonst an fast keiner Uni gesehen habe, in die gehe ich. Mystik und Sagen, alte Sprachen und noch Alchemie."

„Tatsächlich hat unsere Universität ein spezielles Angebot. Mystik uns Sagen besuche ich auch, aber ich bin schon im fünften Semester. Es kann also trotzdem ein anderer Kurs sein, mal sehen."

Ich nicke ihm freundlich zu und esse weiter. Ich schaue mich im Raum um, damit ich Aelfric nicht anstarre. Ihm scheint es aber nicht unangenehm zu sein, mich anzustarren. Ich frage mich, wie ich es fände, wenn er mit mir in einer Vorlesung wäre. Wenn er mich dort auch so anschauen würde, würde ich von der Vorlesung reichlich wenig mitbekommen. Andererseits ist er eine sehr schöne Ablenkung...

„Du kannst sehr gut mit den Zwillingen umgehen, sie haben dich jetzt schon in ihr Herz geschlossen."

Das wundert mich etwas, mir kam vor allem Hrodwyn zurückhaltend vor.

„Tatsächlich?"

„Ja, Hrodwyn beneidet dich, das ist alles. Sie ist nicht immer so zurückhaltend. Wenn du sie näher kennen lernst, taut sie bestimmt auf."

Habe ich laut gedacht, oder warum geht er genau auf meine Zweifel ein? Ich starre ihn entsetzt an.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?", fragt Aelfric höflich. Ich räuspere mich und schüttle den Kopf.

„Nun denn, Lebuin ist sehr aufgedreht, versuche ihn also etwas zu zügeln, wenn er am Übertreiben ist."

„Ich werde mein Bestes geben."

Aelfric lächelt mich eindringlich an.

„Davon bin ich fest überzeugt."

Ich weiche seinem Lächeln aus. Hitze steigt mir in den Kopf. Erneut verfluche ich meinen Körper.

„Wer hat denn sonst immer auf die beiden aufgepasst?", frage ich, um diesen unangenehmen Moment zu überspielen.

„Wir hatten schon einmal ein Au-pair, sie ist aber nicht lange geblieben." Jetzt mustert mich Aelfric prüfend, ganz so, als ob er schauen würde, wie lange ich es hier aushalten werde. Ich gebe zu, diese Familie ist besonders, aber trotzdem werde ich mir ein Jahr in so einem Palast in England nicht entgehen lassen. Oder wurde sie hier rausgeschmissen?

„Vor der Uni haben meine Brüder und ich auf sie aufgepasst. Mein Vater ist viel beschäftigt, seit unsere Mutter gestorben ist. Lebuin und Hrodwyn sind aber sehr eigenständig, sie sind recht erwachsen für ihr Alter, das wirst du auch bald feststellen."

„Das mit eurer Mutter tut mir leid", meine ich peinlich berührt. Solche Momente sind mir immer unangenehm.

„Schon ok, es ist schon einige Jahre her. Autounfall", sagt Aelfric beschwichtigend.

„Und das Au-pair, wie lange ist sie geblieben? Und warum ist sie gegangen?", frage ich frei heraus, um das Thema zu wechseln.

„Nach zwei Monaten. Ihr war wohl unsere Stadt zu klein", ein schelmisches Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, „Das ist aber ganz gut so, du bist viel hübscher als sie."

Mein Herz beginnt zu rasen und ich laufe rot an. Seinem Lächeln nach zu urteilen, hat er sein Ziel erreicht. Er räuspert sich höflich und fragt: „Hast du fertig gegessen, oder soll ich dir noch etwas machen?"

Ich nicke verlegen. Als ich merke, dass das eine entweder-oder-Frage war, werde ich noch röter. Aelfric lächelt mich an und setzt wieder seine höfliche Gentleman-Miene auf.

„Danke, ich bin satt", hänge ich also noch hinterher.

Aelfric steht auf und nimmt meinen Teller. „Du kannst wieder zu den Zwillingen gehen, sie werden sich schon auf dich freuen", sagt er, dann verschwindet er mit einem zauberhaften Lächeln in der Küche. Wenn mich nicht alles täuscht, hatte dieses Lächeln eine leicht selbstgefällige Note.

Ich stehe auf und gehe in die Eingangshalle, froh, dieser für mich unangenehmen Situation entkommen zu können. Dort ist die Klaviermusik noch lauter und ich muss mich beherrschen, den Raum, aus dem die Musik stammt, nicht zu betreten, sondern die Treppe hinaufzugehen und an Lebuins Tür zu klopfen. Lebuin öffnet die Tür sofort und ich trete ein. Die beiden Kinder schauen mich freundlich, abwartend und auch neugierig an.

„So, worauf hättet ihr denn Lust? Sollen wir Spiele spielen oder wollt ihr mir vielleicht den Garten zeigen?"

„Ja, lass uns in den Garten gehen", sagt Hrodwyn mit strahlenden Augen. Auch Lebuin ist begeistert. Dass sie anscheinend gerne draußen sind, finde ich toll. Auch ich liebe die Natur und der Garten der Grayheads ist so schön groß und bunt. Wir holen also unsere Jacken und Schuhe und gehen hinaus. Es ist dort schön frisch, die Luft belebt die Sinne. Von dem Vorhof aus führt ein schmalerer, kieselsteiniger Weg hinter das Haus und in den sich dort befindenden Garten.



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