„Miss Mayer?"
Ich fahre herum. Eine weiße Gestalt steht direkt hinter mir, ohne dass ich ein Näherkommen bemerkt hätte. Ich springe auf. Gerade will ich den Mann begrüßen, der sicherlich mein Gastvater ist, als mir erneut die Stimme wegbleibt. Zum einen ist er sehr attraktiv, das kann ich trotz des wenigen Lichtes sehr gut erkennen, zum anderen umgibt ihn eine Aura, die mit extremer Macht auf mich einwirkt. Eine Mischung aus Faszination und Furcht überwältigt mich und ich erstarre völlig.
„Entschuldigen Sie, wo bleiben meine Manieren, mein Name ist Mylentun Grayhead, wir haben bereits telefonisch korrespondiert. Ich heiße Sie herzlich in unserem kleinen Städtchen Dormith willkommen", sagt der Mann mit tiefer, freundlicher Stimme.
„Hallo, ja, haben wir", bringe ich gerade so heraus. Wie unhöflich von mir. Ich versuche mich zusammenzureißen und verstehe nicht, was plötzlich mit mir los ist. Oder was mit den Leuten hier los ist. Vielleicht bin ich auch einfach zu müde, jedenfalls benehme ich mich gerade furchtbar. Ich atme noch einmal kurz durch und versuche, aus meiner Starre zu fallen.
„Ich bin Scarlett Mayer, freut mich, Sie kennen zu lernen", sage ich und bringe ein Lächeln hervor. Erst jetzt bemerke ich, dass Mr. Grayhead mir die Hand zur Begrüßung ausgestreckt hat. Verlegen nehme ich die Hand und schüttel sie. Sie ist so kalt, als ob er sehr lange in der Kälte gestanden hätte, ist es etwa ein langer Weg zu ihm? Hat er kein Auto?
„Darf ich Ihnen Ihr Gepäck abnehmen, Scarlett?", fragt er höflich. Ein echter Gentleman, diese Aussprache und so ein Benehmen bin ich nicht gewohnt, vielleicht sind Engländer einfach so.
„Äh, gerne, danke."
Mr. Grayhead nimmt die zwei Koffer, als ob sie leer wären, und geht zielstrebig Richtung Wald. Ich folge ihm.
„Keine Sorge, es ist kein allzu langer Fußmarsch zu dem Auto, es geht hier nur ein Stück durch den Wald. Achten Sie bitte auf den Weg, er könnte etwas uneben sein."
Fasziniert folge ich der Gestalt meines Gastvaters, er wirkt so grazil und kräftig. Ich frage mich, wie alt er wohl ist, er wirkt so jung. Als ich den Wald betrete, durch den ein schmaler Weg führt, den ich davor nicht gesehen habe, denke ich wieder an das Heulen von vorhin.
„Gibt es hier Wölfe?"
„Wölfe? Ja, eine lästige Angelegenheit, wenn ich das so sagen darf."
Lästig wäre nicht der erste Begriff gewesen, der mir bei Wölfen in den Sinn kommt. Schweigend laufe ich hinter Mr. Grayhead her, der Wald hat nun all das Licht des Bahnsteigs verschlungen. Durch die Anwesenheit einer anderen Person habe ich keine Angst mehr, dafür beunruhigt mich Mr. Grayhead auf eine andere Art und Weise. Ich kann nicht sagen, was es ist, doch ist er anders als all die Menschen in meinem bisherigen Leben.
Nach einer Weile kommen wir aus dem Wald heraus zu einem Parkplatz, auf dem ein sehr schöner, roter Oldtimer steht, auf den wir zulaufen. Während Mr. Grayhead die Koffer im Kofferraum verstaut, immer noch so, als ob sie nichts wiegen würden, schaue ich mich um. Der Wald zieht sich noch viel weiter in beide Richtungen und umgibt die ganze Stadt, die jetzt vor uns liegt. Wir sind nur aus einem sehr kleinen Teil des Waldes gekommen, es war eine sehr gute Idee, zu warten und nicht planlos herumzuirren.
Die Stadt wirkt sehr klein, es ist vom Parkplatz aus noch etwa ein Kilometer bis dorthin. Ich kann jetzt im Dunkeln nicht viel erkennen, außer, dass es anscheinend zwei größere Gebäude gibt. Wir steigen in das Auto ein, auch darin ist es sehr kalt. Mr. Grayhead fährt los, er fährt sehr schnell, dennoch hat er einen angenehmen Fahrstil.
„Sie verstehen sicher, dass Sie Lebuin und Hrodwyn erst morgen kennen lernen können. Sie sind zehn und schlafen jetzt schon", sagt Mr. Grayhead und schaut mich an. Sein Gesicht wird durch die Tachoanzeige etwas beleuchtet, sein Blick ist fesselnd. Die Augen scheinen mir sehr dunkel, es liegt etwas Prüfendes darin. Erst, als er wieder auf die Straße schaut, kann ich antworten.
DU LIEST GERADE
Salvation
ParanormalScarlett macht ein Au-pair Jahr in England, um ein neues, wildes und aufregendes Leben nach der Schule zu entdecken. Doch irgendetwas mit den Grayheads, ihrer Gastfamilie, stimmt nicht. Bevor sie nicht herausfindet, was das ist, weigert sie sich, al...