Kapitel 3/6

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Raedwulf sagt nichts. Ich versuche, etwas aus seinem Blick herauszulesen, doch er verrät nichts. Seine Augen sehen jetzt wie grüne Diamanten aus, wunderschön und hart. Doch das ist nur Fassade, in manchen Augenblicken sehe ich, wie die Trauer sich in sie schleicht.

„Ich meinte eher, ich sollte ihn einfach einschränken, indem ich verhindere, dass er das macht, was er in einer Situation plötzlich will", sagt Raedwulf. Ich höre aber heraus, dass sich ein tieferer Sinn hinter diesen Worten verbirgt. Auch sein Blick verrät ihn. Dennoch will ich nicht weiter darauf eingehen. Ich bin in diesem Raum wegen Raedwulf, nicht wegen Veland. Deshalb nicke ich ihm zu, ebenso glaubhaft wie seine Worte.

„Seit wann spielst du?", frage ich ihn also, mit meinem Kopf auf das Piano deutend.

„Eine Weile", sagt er in Gedanken verloren und beginnt, eine weitere Melodie einzustimmen. Sein Blick schweift wieder von mir ab und starrt ins Leere.

„Deine Musik ist so traurig", sage ich vorsichtig. Ich erhalte keine Antwort, Raedwulfs Miene ändert sich nicht.

„Warum?"

Raedwulf stoppt wieder die Musik. Sein Blick richtet sich erneut auf mich, diesmal mit einem Feuer in den Augen, das so ungezügelt ist, dass mir bei diesem Anblick ganz heiß wird. Raedwulf hebt seine Hand ganz langsam zu meinem Gesicht und stockt. Er scheint einen inneren Kampf zu führen. Ich bleibe ganz ruhig sitzen, traue mich nicht, zu atmen. Das Feuer siegt und Raedwulfs Hand bewegt sich weiter auf mein Gesicht zu, noch langsamer als zuvor, und streift sanft meine Wange. Diese einfache Berührung entfacht Leidenschaft in mir, von meinem Herz beginnend bis in jede Faser meines Körpers.

Mir wird schwindelig. Ich bemerke, dass ich die Luft immer noch angehalten habe und versuche wieder zu atmen, was mir auf sehr unregelmäßiger Art gelingt. Raedwulfs Hand ist ganz kalt, aber auch weich und zart und dennoch sehr kräftig. Ich spüre, dass er unter Spannung steht, ganz so wie ich auch. Das Feuer in seinen Augen verglüht mein Inneres. Doch bevor ich auch nur richtig diese Berührung genießen kann, zieht er seine Hand wieder weg, irritiert von sich selbst.

„Ich glaube, du solltest jetzt gehen", sagt er. Mein Herz zieht sich zusammen und ich frage mich, was ich falsch gemacht habe. Schockiert blicke ich ihn an, seine Augen sind hart. Er lässt keinen Zweifel daran zu, dass er es ernst meint.

Gekränkt stehe ich auf, noch ganz zittrig von der Berührung. Ich gehe langsam auf die Tür zu. Bevor ich den Raum verlasse, drehe ich mich ein letztes Mal zu Raedwulf um. Er starrt in die Leere, es sind ihm keine Emotionen abzulesen. Doch nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe, beginnt er mit einer nächsten melancholischen Musik, die mich erschaudern lässt.

Wie in einem Traum schlurfe ich die Stufen hinauf in mein Zimmer. Alles fühlt sich gerade so surreal an. Ich bin von Raedwulfs Reaktion geschockt. Der Moment war so perfekt, ich habe endlich mein Verlangen zugelassen, doch dann hat er das so abrupt beendet. Ich fühle mich zurückgewiesen. Er war es doch, der mich berührt hat, ich saß doch nur da. Wenn man diesen kurzen Moment überhaupt als richtige Berührung durchgehen lassen will.

Ich gehe ins Bad und lasse Wasser in die Badewanne ein. Als sie voll genug ist, ziehe ich mich aus und lasse mich in das warme Wasser gleiten. Wohlig spüre ich, wie meine verkrampften Muskeln beginnen zu entspannen. Ich schließe meine Augen und versuche, die Verletztheit zu überwinden. Raedwulf wird sicherlich seine Gründe gehabt haben, mich wegzuschicken. Es muss ja nicht immer alles mit mir zu tun haben oder an mir liegen.

Eine andere Sache, die mich beschäftigt, sind Velands Pläne, von denen Raedwulf sprach. Es klang wirklich so, als ob Veland etwas im Schilde führen würde, was nichts Gutes verheißt. Wenn er nicht nur willkürlich den Bad Boy raushängen lassen will, was hat er dann im Sinn? Und welche Rolle soll ich in diesem Plan spielen? Ich verkrampfe mich. Ist er vielleicht doch gefährlicher, als ich dachte, und wenn ja, wie kann ich dieser Gefahr entgehen? Und wie kann ich feststellen, um was für eine Gefahr es sich handelt?

Mittlerweile bin ich mir sicher, dass etwas mit den Grayheads nicht stimmt, nur weiß ich nicht, was es ist. Früher habe ich mir immer gewünscht, in einem der vielen Krimiromane, die ich gelesen habe, selbst mitzuspielen. Doch jetzt, da es in meinem wirklichen Leben ein Geheimnis zu enthüllen gibt, komme ich zu dem Schluss, dass dieser Wunsch irrsinnig war. Wenn es hier eine wirkliche Gefahr gibt, dann will ich damit nichts zu tun haben. Aber ich bin dennoch neugierig genug, um erst herausfinden zu wollen, um welche Gefahr es sich handelt, bevor ich beschließe, ihr zu entgehen.

Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass ich mir das alles nur einbilde, Raedwulfs Bemerkungen, Velands Verhalten, Aelfrics Sensibilität und ihre Wirkung. Nur ist das unwahrscheinlich. Bis jetzt konnte ich mich immer sehr gut auf meine Intuition verlassen. Wenn ich das Gefühl habe, dass Menschen nicht gut für mich sind, dann merke ich das schnell. So war es schon immer und ich bin fest davon überzeugt, dass ich weiterhin darauf hören sollte. Bei den Grayheads bin ich mir sicher, dass etwas nicht stimmt. Doch ist es bei ihnen anders, auch wenn ich spüre, dass ich mich ihnen entziehen sollte, kann ich es nicht. Irgendetwas an ihnen zieht mich an, so wie etwas anderes an ihnen mich abstößt. Solange ich nicht herausgefunden habe, was dieses Etwas ist, kann ich einfach nicht gehen.



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