Auf der Rückfahrt sprechen wir kein Wort. Die Zwillinge scheinen dies nicht als merkwürdig zu empfinden. Ich grüble die ganze Zeit vor mich hin, was das sollte und worüber sie sich gestritten haben. Das sah nicht mehr nur nach einem Streit unter Kumpeln aus, es wirkte wirklich bedrohlich. Wenn ich an den Ausdruck in Raedwulfs oder Aelfrics Gesicht denke, bekomme ich Gänsehaut. Ich frage mich, was das ausgelöst haben könnte, traue mich aber nicht, zu fragen.
Als wir auf dem Hof des Anwesens aussteigen, frage ich die Zwillinge, worauf sie jetzt Lust hätten.
„Wir könnten in die Bibliothek gehen und was lesen", sagt Hrodwyn mit glänzenden Augen. Auch Lebuin scheint nichts dagegen zu haben. Das ist sehr verwunderlich, wollen Kinder in dem Alter nicht lieber andere Sachen machen? Aber wenn beide nichts dagegen haben, habe ich natürlich auch keine Einwände. Dies ist ohnehin eine gute Gelegenheit, um meinen Eltern eine E-Mail zu schreiben.
Wir gehen also hoch und zu der elegant verzierten Doppeltür, die den Eingang der Bibliothek ziert. Als wir diese betreten, kann ich meinen Augen nicht trauen. Ich habe mir unter einer Bibliothek in einem Wohnhaus nichts weiter als einen Raum vorgestellt, in dem ein paar Bücher stehen. Im Nachhinein betrachtet war das natürlich eine dumme Annahme. Unter keinen Umständen aber hätte ich mir diesen gigantischen Raum mit Bücherregalen so großer Anzahl vorgestellt oder mir auch nur ausmalen können, dass ein Privathaushalt zu einer solchen Bücheranzahl gelangen könnte. Es gibt kein Regal, in dem viel freier Platz ist, ich glaube sogar, dass in diesem Raum mehr Bücher sind, als in der Bibliothek meiner Heimatstadt insgesamt vorhanden.
Fasziniert laufe ich die Regale entlang, während die Zwillinge zwischen ihnen verschwinden. Ich fahre meine Hand aus und streiche sanft über die Buchrücken. Es ist wirklich unfassbar, wie man so viele Bücher haben kann. Es reicht kein Menschenleben aus, um alle zu lesen. In einem hinteren Regal stehen Bücher, die so alt aussehen, dass ich Angst habe, sie zu berühren. Vielleicht würden sie zu Staub zerfallen, so wirken sie jedenfalls. Ich nehme mir fest vor, mir diese Bücher bei Gelegenheit genauer anzuschauen, vielleicht, wenn ich mal allein bin. Jetzt will ich aber trotzdem erst meine Mail schreiben. Wenn ich beginnen würde, hier Bücher zu lesen, würde ich sonst wahrscheinlich nicht mehr dazu kommen.
Ich gehe also in die Mitte der Bibliothek, in der Tische und gemütlich wirkende Sessel stehen, auf denen sich Lebuin und Hrodwyn schon ausgebreitet haben. Auch ich setzte mich auf einen von ihnen und zücke mein Handy. Hrodwyn ist vollkommen vertieft in ihr Buch, während Lebuin verstohlen zu mir hinüberschaut. Ich tue so, als ob ich das nicht merken würde, und beginne, eine E-Mail zu verfassen.
Hallo Papa, hallo Mama,
ich hoffe, es geht euch gut. Ich hatte heute meinen ersten Tag an der Uni. Die Vorlesungen waren interessant und ich habe schon einige Leute kennengelernt.
Die Einheimischen erkennt man hier schnell, denn sie sind etwas besonders in ihrem Verhalten. Ich weiß noch nicht, wie ich das finden soll, aber ich gehe positiv an die Sache ran.
Mylentun, mein Gastvater, ist anscheinend nicht häufig da. Ich habe ihn nur am ersten Tag und am Morgen des zweiten Tages gesehen, das war's dann auch schon.
Das Haus, in dem ich lebe, ist gigantisch, ein richtiges Herrenhaus. Momentan sitze ich in der Bibliothek, die mehr Bücher als unsere Bibliothek zu Hause hat. Das ist wirklich unglaublich, diesbezüglich bin ich wohl im Paradies.
Die Kinder, auf die ich aufpassen soll, sind sehr selbstständig. Eigentlich sind sie zehn, wirken aber charakterlich viel älter und reifer. Ich habe also noch gar nicht viel zu tun. Vielleicht liegt es daran, dass sie ihre Mutter schon so früh verloren haben und deswegen selbstständig werden mussten. In dem Fall tut mir das sehr leid.
Ich hoffe, es geht euch gut. Ich vermisse euch. Jetzt werde ich aber mal anfangen, mich durch die Bücher hier zu fressen.
Vergesst mich nicht,
eure Scarlett
Ich lese mir die Mail noch einmal durch und schicke sie dann ab. Von den drei Grayheadsöhnen wollte ich lieber nicht berichten und hoffe, dass das meiner aufmerksamen Mutter nicht auffällt. Als ich mein Handy verstaue, springt Lebuin auf und drückt mir das Buch, das er gerade gelesen hat, aufgeschlagen in die Hand.
„Kannst du uns vorlesen?", fragt er begeistert.
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Salvation
ParanormalScarlett macht ein Au-pair Jahr in England, um ein neues, wildes und aufregendes Leben nach der Schule zu entdecken. Doch irgendetwas mit den Grayheads, ihrer Gastfamilie, stimmt nicht. Bevor sie nicht herausfindet, was das ist, weigert sie sich, al...