„Natürlich", antworte ich. Tatsächlich liebe ich es, anderen vorzulesen. Allgemein haben mich Bücher schon immer begeistert.
Ich begutachte das Werk, welches ich in den Händen halte, und stelle verblüfft fest, dass es Shakespeare ist. Genaugenommen Coriolanus.
„Äh, sicher, dass ihr das vorgelesen bekommen wollt? Ist das nicht für... eine andere Altersgruppe?", frage ich verwirrt. Nicht einmal ich habe Shakespeare gelesen, selbst Romeo und Julia, was in der Schule Pflichtlektüre war, habe ich nur überflogen.
„Doch, bitte lese das! Ich liebe Shakespeare und seine Werke. Diese Wortwahl und diese Thematik ist so faszinierend", antwortet Hrodwyn mit glänzenden Augen und legt ihr Buch auf den Tisch. Verdattert schaue ich die beiden Zehnjährigen an, die sich jetzt gespannt auf ihren Sesseln räkeln, bereit zum Zuhören. Also nehme ich Coriolanus in beide Hände, konzentriere mich auf den Text und beginne zu lesen.
Ich stimme Hrodwyn zu, wenn sie sagt, die Sprache und die Thematik wären faszinierend, aber doch nicht für Zehnjährige. In diesen Gedanken vertieft verlese ich mich sogar einige Male. Die Zwillinge scheint das aber nicht zu stören, sie sind einfach glücklich, meinen – oder besser Shakespeares – Worten lauschen zu dürfen.
Nach einer Stunde ist mein Mund ganz ausgetrocknet. Ich lege also Coriolanus neben das Buch, das Hrodwyn zuvor gelesen hat. Es ist Persuasion von Jane Austen.
„Tut mir leid, aber ich muss mir was zu trinken holen. Ich komme gleich wieder", sage ich zu den Zwillingen, die verständnisvoll nicken. Ich stehe langsam auf und strecke mich, während sich die Kinder wieder die jeweiligen Bücher schnappen und gierig weiterlesen. Das ist wirklich unglaublich. Ich schüttle den Kopf und gehe aus der Bibliothek, die große Treppe hinunter und in die Küche.
Diese habe ich bisher noch nicht betreten, da mir immer jemand mit dem Essen zuvorgekommen ist. Es ist, wie zu erwarten, ein sehr großer Raum. In der Mitte stehen zwei freistehende Theken, die mit Kochplatten und Waschbecken ausgestattet sind. Im Gegensatz zum restlichen Anwesen ist dieser Raum sehr modern gestaltet. Am verwirrendsten ist, dass die Wände fast nur mit Kühlschränken vollstehen. So viele Lebensmittel kann man gar nicht haben!
Auf einer der Theken stehen Gläser, von denen ich mir eines nehme und an einem Wasserhahn auffülle. Während ich trinke, gehe ich zu einem der Kühlschränke und will ihn öffnen, stelle aber fest, dass er verschlossen ist. Selbst als ich kräftig daran ruckle, will sich die Tür nicht öffnen.
„Stöbert die Kleine mal wieder in Sachen, die sie nichts angehen?"
Ich fahre herum und lasse vor Schock das nun leere Glas fallen. Bevor es aber auf dem Boden aufkommt, fängt es Veland, der direkt hinter mir steht, lässig mit einer Hand auf. Es sind nur ein paar Zentimeter zwischen uns. Schweiß bricht mir aus und mein Herz pocht laut. Veland grinst mich nur arrogant an und versperrt mir mit der freien Hand den Weg, indem er sich an dem Kühlschrank hinter mir abstützt. Sein warmer, süßer Atem trifft mein Gesicht und benebelt meine Sinne. Ich fühle mich ganz schwummrig und kann mich kaum gerade halten.
„Veland, verschwinde!", zischt eine wütende Bassstimme von der Tür aus. Ich drehe meinen Kopf in die Richtung der Stimme und sehe, dass Raedwulf in der Tür steht. Veland zuckt nicht einmal mit der Wimper und bewegt sich kein bisschen von mir weg.
„Veland!", wiederholt Raedwulf. Nun klingt es wie ein Knurren, so wütend, dass mir ein kalter Schauder den Rücken hinab läuft. Veland seufzt ironisch wehmütig und lässt von mir ab. Dann stellt er das Glas auf der Theke ab, zwinkert mir zu und verlässt die Küche, wobei er Raedwulf hart an der Schulter trifft, als er an ihm vorbei geht. Dieser bleibt so standhaft wie eine Statue stehen und schaut mich aufmerksam an. In seinen Augen ist die Sorge um mich abzulesen.
Meine Beine sind noch ganz weich und der Duft hängt weiterhin in meiner Nase. So abstoßend und doch so verführerisch. Ich schaue Raedwulf an, sicherlich noch mit geschocktem Blick.
„Danke", flüstere ich ihm zu.
Raedwulf schaut michnoch einen weiteren Moment an, prüfend. Dann dreht er sich ohne ein weiteresWort um und ist verschwunden. Zitternd lehne ich mich an den Kühlschrank hintermir und warte, bis sich mein Puls beruhigt hat. Nach ein paar Minuten hole ich meinGlas, fülle es und trinke es schnell leer. Dann stelle ich es ab und gehewieder hoch in die Bibliothek, froh, niemandem auf dem Weg dorthin zu begegnen.Nur Raedwulfs Musik ist zu hören. Sie klingt aggressiv.
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Salvation
ParanormalScarlett macht ein Au-pair Jahr in England, um ein neues, wildes und aufregendes Leben nach der Schule zu entdecken. Doch irgendetwas mit den Grayheads, ihrer Gastfamilie, stimmt nicht. Bevor sie nicht herausfindet, was das ist, weigert sie sich, al...