Kapitel 1/3

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Als ein lautes Läuten ertönt, schrecke ich aus dem Schlaf. Ich schaue mich um und sehe, dass es von einer Glocke kommt, die neben meiner Tür hängt. Das muss Mylentun mit „aus dem Schlaf läuten" gemeint haben, also stehe ich müde, aber motiviert, auf. Die Sonne scheint durch ein breites Doppelfenster in mein Zimmer, welches zu Tageslicht noch viel protziger aussieht, als es gestern Nacht gewirkt hat. Ich laufe zu dem Fenster hinüber und blicke auf einen wunderschönen, gepflegten Garten mit einer unglaublichen Blumenvielfalt. Einen Augenblick lang erfreue ich mich noch an dem Ausblick, dann ziehe ich mich hastig um und mache mich bereit für den Tag. Als ich aus meiner Zimmertür trete wartet Mylentun dort bereits auf mich.

„Guten Morgen, Scarlett, haben Sie angenehm genächtigt?", fragt er mich freundlich.

„Ja, das Bett ist toll", antworte ich mit einer Halbwahrheit.

„Ich muss Sie leider bald schon verlassen, meine Arbeit ruft, deshalb wird Sie mein Ältester, Aelfric, durch mein Haus führen. Bitte folgen Sie mir."

Ich frage mich, was für eine Arbeit wohl ruft, die am Sonntag so dringend ausgeführt werden muss. Jedoch bin ich auf die Familie zu gespannt, um zu fragen. Mylentun führt mich die Treppe hinunter, biegt unten rechts ab und geht in einen Raum, dessen breite Türen jetzt offenstehen. Vor mir erstreckt sich ein großer, länglicher Saal, in dessen Mittelpunkt ein ebenso länglicher Tisch mit 13 Stühlen steht. 

Am Kopfende steht ein freier Stuhl, auf dessen rechten Seite ein junger, kräftiger Mann mit langen, braunen Haaren, die zu einem Zopf zurückgebunden sind, sitzt. Als wir den Raum betreten, hat er uns den Rücken zugewandt und scheint auf etwas fixiert, was ich aus meinem Blickwinkel nicht sehen kann.

„Aelfric, Raedwulf, darf ich vorstellen, Scarlett, das Au-pair aus Deutschland."

Mylentun weist mit einer Hand zu mir.

„Scarlett, das sind mein ältester Sohn Aelfric", er deutet zu dem Mann mit den langen Haaren, „und mein drittältester Sohn Raedwulf."

Erst jetzt bemerke ich, dass jemand in dem Schatten einer Standuhr steht, halbverborgen im Dunklen. Aelfric, der noch zuvor seinen Bruder angestarrt hat, dreht sich lächelnd zu mir um. Als ich Aelfrics Gesicht sehe, haut mich der Anblick um. Er ist, ebenso wie sein Vater, wunderschön. Seine maskulinen Gesichtszüge werden von ein paar losen Haaren, die sich aus seinem Zopf gelöst haben, sanft umspielt, seine braunen Augen strahlen eine Intensität aus, die mein Herz schneller schlagen lässt. Das Lächeln auf seinen vollen Lippen macht den Anblick perfekt.

Aelfric steht auf, durchquert den Raum mit einigen, schnellen Schritten und streckt mir die Hand entgegen.

„Hallo Scarlett, es ist mir eine Freude, dich kennen zu lernen."

Ich ergreife seine Hand. Sie ist eisig.

„Hallo", sage ich, meine Stimme ist leicht angeraut. Ich schimpfe mich innerlich dafür, dass sich bei jeder neuen Begegnung mit einem Grayhead mein Denken verabschiedet. 

Hinter Aelfric bewegt sich der Schatten neben der Standuhr. Ein dunkelhaariger, blasser Junge tritt hervor, sein Blick ist dem Boden zugewandt. Er durchquert den Raum langsamer als Aelfric, schaut mich kurz an, nuschelt ein „Hi" und schaut dann wieder zu Boden.

Auch er ist sehr schön, seine giftgrünen Augen könnten sicherlich ebenso fesselnd sein, doch bin ich froh, dass wenigstens einer in diesem Haus mich nicht sofort aus dem Konzept wirft, und sei es nur aus Schüchternheit. Ich lächle ihm zu. Das muss also Raedwulf sein.

„Wo ist Veland?", fragt Mylentun an seine Söhne gerichtet.

Aelfric antwortet seinem Vater: „Er meinte, er hätte Wichtigeres zu tun. Ich befürchte, er ist gerade nicht abkömmlich."

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