Sie lag da. Lag einfach da und wunderte sich. Sie konnte fühlen. Sie fühlte den harten, rauen Asphalt unter sich, die warme Sonne, die auf ihre braune Schale schien. Sie spürte das Vibrieren des Bodens unter ihr, wenn ein Auto vorbei fuhr. Sie konnte hören. Sie hörte den Lärm um sie herum und sie hörte den Aufschlag, wenn eine weitere Kastanie vom Baum fiel. Sie lauschte den zarten Stimmen der Vögel. Sie konnte nicht sehen, aber sie stellte es sich alles vor. Versuchte sich vorzustellen, wie es wohl um sie herum aussah. Sie kannte keine Farben, keine Formen, kein Hell und kein Dunkel. Deswegen müssen ihre Vorstellungen vermutlich ziemlich abstrakt ausgesehen haben.
Sie wunderte sich. Wunderte sich, woher sie all das Wissen hatte. Woher wusste sie von Vögeln, von Autos, von Asphalt und der Sonne? Sie wusste es nicht. Was sie aber noch mehr beschäftigte als die Frage nach dem Woher, war die Frage nach dem Warum. Warum wusste sie, was sie wusste? Warum konnte sie fühlen und hören, aber nicht sehen? Warum gab es sie überhaupt? Sie wusste es nicht. Sie wusste nichts, von dem, was um sie herum geschah. Sie wusste, was sie hörte und fühlte, aber sie wusste nicht, wie es um sie herum aussah und warum sie lebte. Sie wusste ja nicht einmal, was das ist, das Leben. Und während sie so darüber nachdachte, warum es sie gab, warum sie das alles wusste und woher, während sie nachdachte, wie wohl alles aussah, und was sie war oder was sie sein sollte, während dieser Zeit bestimmte das Schicksal, dass sie einen Grund haben sollte, warum sie lebte.
Der Wind frischte auf und ein Windstoß sollte sie auf den kleinen Fleck Erde neben dem Asphalt rollen. Sie wusste nicht, wie ihr geschehen sollte, wusste nicht, dass sie wachsen würde und gedeihen und größer und größer werden sollte. Sie wusste es nicht und sie hatte Angst vor dem Unbekannten, obwohl ihr doch so vieles Unbekannt war. Und so hielt sie fest, hielt dem Wind stand und ließ sich nicht weg rollen. Sie hörte ein Sirren. Das Sirren und Surren und Schnurren eines Rades. Sie wusste, dass es ein Fahrrad war, obwohl sie nie eines gesehen hatte und sie wunderte sich, woher sie es wusste. Doch noch bevor sie erfahren sollte, dass sie es wusste, ohne dass es einen Grund dafür gab, dass sie es wusste, einfach weil sie es wusste, noch bevor sie erfahren konnte, was vielleicht passiert wäre, hätte sie sich vom Wind davon rollen lassen, bevor sie irgendetwas Neues wissen konnte, fühlte sie den Schmerz. Fühlte den Schmerz, als ihre glatte, braune Schale aufplatzte und sie zerriss. Fühlte den Schmerz, als der Asphalt plötzlich nicht mehr nur rau, sondern mit Stacheln überseht zu sein schien. Fühlte den Schmerz, als der schwere Reifen des Rades ihr weißes Fleisch zerquetschte. Sie fühlte den Schmerz und hörte. Hörte das Quietschen und den Schrei. Den Schrei, als etwas Schweres in ein Auto knallte. Sie hörte das Brechen von Knochen und einen verzweifelten Hilfeschrei. Alles wurde leiser und undeutlicher. Sie hörte Sirenen und Weinen, Schreien, Fluchen, Bitten. Es wurde leiser und leiser. Und während sie ihren Schmerz spürte, glitt sie ins Nichts über.
Blut war auf der Straße und vermischte sich mit so vielen Tränen. Metall war verbogen, Trauer gesäet und ein Leben ausgelöscht. Daneben, ebenfalls auf der Straße, lag eine Kastanie. Ihr weißes Fleisch zeigte gen Himmel, zur Sonne, die sie nie gesehen hatte.
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Frei in den Wörtern
PoetryDas ist keine eigentliche Geschichte. Hier stelle ich viele verschiedene kurze und nicht ganz so kurze Texte hoch, die mir spontan zu 'Inspirationswörtern' einfallen. Sie sind unterschiedlich lang, aber kein Text ist länger als eine Seite. Für mich...