9. Ton

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Sie sitzt in ihrem Atelier, hat einen Tonklumpen vor sich auf dem Tisch. Sie hat den Auftrag, einen freien Gedanken in Ton zu formen.

Wie formt man einen freien Gedanken?, fragt sie sich und ärgert sich innerlich über den Auftrag der alten Dame. Immer hat diese so komische Ideen! Aber sie kann ihre Aufträge nicht ablehnen, dazu braucht sie das Geld viel zu sehr. Vor ihrem Fenster singt ein Rotkehlchen. Sie lässt ihren Blick umher schweifen. Sie betrachtet den im Sonnenlicht tanzenden Staub, betrachtet ihre anderen Werke, dann blickt sie aus dem Fenster. Sie sieht den Fluss, er glitzert im Licht der Sonne. Sie sieht die wogenden, goldenen Weizenfelder mit den roten und blauen Tupfen der Mohn- und Kornblumen darin. Sie sieht ein paar Hasen über die Weide hoppeln und Wolken am Himmel bizarre Formen bilden. Und ihre Hände fangen wie selbst an, den Ton zu formen. Sie schaut nicht hin, sie hat ihre Augen geschlossen, sie lässt einfach alles heraus. Sie weiß nicht, wie lange sie so da sitzt, aber als der letzte Sonnenstrahl ihr Gesicht verlässt, öffnet sie die Augen. Ihre Hände sind fertig. Sie schaut nicht nach, was sie gemacht hat, sie steht einfach auf und verlässt das Atelier. Wenn sie am nächsten Morgen zurückkommen wird, wird sie die beste Skulptur vorfinden, die sie jemals gemacht hat. Denn auf ihrem Tisch sitzt ein Rotkehlchen, dass realer nicht aussehen könnte, selbst wenn es nicht aus Ton bestünde.

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