Kapitel 82

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Sura

Sechs Stunden bis zur Hinrichtung

Ich raufe mir bereits zum zehnten Mal durch die Haare, sodass mit Sicherheit langsam wie ein Vogelnest aussehen. Doch das ist jetzt völlig nebensächlich, da ich immer noch nicht darauf gekommen bin, was ich übersehe. Irgendetwas muss faul sein! Abermals versuche ich es bei Alkims Sekretärin, aber erneut erhalte ich die Auskunft, dass sie nicht zur Arbeit erschienen ist, sowie das Mr. Alkim noch nicht wieder von seiner Geschäftsreise zurückgekehrt ist.

Mittlerweile bin ich mir sicher, dass bei den beiden etwas faul sein muss. Entweder hat sie es sich doch anders überlegt und möchte mir nicht mehr helfen oder ihr ist etwas passiert. Über die zweite Möglichkeit denke ich vorerst nicht nach. Lieber klammere ich mich an den kleinen Strohhalm, dass sie vielleicht doch noch anruft.

Auch ein weiterer Anruf bei Leo hat mir nichts gebracht. Er war genauso wenig erfolgreich wie ich und alle Versuche mit der Staatsanwaltschaft zu sprechen, sind gescheitert. Die einzige Möglichkeit die wir noch haben, ist, dass ich fehlenden Beweise auf den Silbertablett serviert bekomme. Wenn sich Jason doch nur erinnern würde ... Das würde uns ebenfalls um einiges weiterbringen.

Ich seufze und raufe mir erneut die Haare. Meine Gedanken schweifen ein wenig ab, bis mir noch eine letzte Möglichkeit durch den Kopf schießt: Jasons Brief!

Wie vom Blitz getroffen springe ich auf, was mir verwunderte Blicke meiner Kollegen einbringt und ziehe meine Handtasche heran.

Ich durchwühle sie und mein Herz beginnt zu pochen, als ich den Brief nicht auf Anhieb finde. Als ich jedoch das Geheimfach öffne, steckt er nach wie vor darin. Erleichtert atme ich aus und hole ihn mit zitternden Fingern hervor. Wieso habe ich daran nicht schon eher gedacht?

Vorsichtig reiße ich ihn auf, doch als ich die Blicke der anderen auf mir spüre, beschließe ich, ihn auf der Toilette zu lesen. Ich eile zu den Waschräumen, gehe in eine freie Kabine, und schließe ab.

Mit gemischten Gefühlen setze ich mich auf den WC-Deckel und entfalte das Papier. Obwohl ich noch nicht einmal angefangen habe, schnürt es mir bei dem bloßen Gedanken daran, was Jason womöglich geschrieben hat, den Atem ab.

Um nicht weiter wertvolle Zeit verstreichen zu lassen, beginne ich zu lesen.

Sura,

wenn du diesen Brief liest, bin ich bereits tot. So wirklich weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe dir so viel zu erzählen und zu erklären, da wir ja nie die Chance hatten, uns richtig kennenzulernen.

Aber eins vorab: es war die Wahrheit, dass du mir etwas bedeutest. Ich sage es dir deshalb, weil ich dich am Anfang tatsächlich nur benutzen wollte. Ich wollte, dass du dich in mich verliebst und dich so mehr in meine Story reinkniest. Dass ich mich dabei selbst Gefühle entwickeln würde, hätte ich niemals erwartet.

Ich lasse den Brief kurz sinken, um tief durchzuatmen. Er hat mich am Anfang also tatsächlich benutzt. So wie ich es mir bereits gedacht hatte, denke ich mir bitter und dieses Geständnis von Jason, hinterlässt einen schalen Beigeschmack.

Weswegen ich dir diesen Brief überhaupt schreibe, ist, dass du die Wahrheit von dem einem Seal Einsatz kennen sollst. Ich habe dir vorher nichts dazu gesagt, da er absolut nichts mit meiner Anklage bezüglich des Mordes zu tun hat.

Ich sollte eigentlich niemanden etwas darüber sagen, dafür wurde ich schließlich nicht angeklagt, daher bitte ich dich, dieses Wissen auf gar keinen Fall mit jemandem zu teilen.

Als ich damals meine zwei Kollegen erschoss, dann war das nicht, weil ich einen Auftrag erhalten hatte. Ich tat es aus freien Stücken, da die beiden es verdient hatten. Genau wie die zwei Jugendlichen.

Wahrscheinlich ist dir gerade die Kinnlade aufgeklappt, doch es ist die Wahrheit. Die zwei Jugendlichen schossen auf uns und ich hatte keine Wahl, als sie ebenfalls zu töten.

Kommen wir aber nun zu den beiden Seals. Die zwei waren Soldaten, die diese Bezeichnung nicht einmal verdient haben. Sie haben wahllos auf Zivilisten geschossen und sich teilweise sogar an den Einheimischen dort vergangen.

Als wir während des Einsatzes dort waren, schossen sie auf einen anderen Seal. Er sackte direkt neben mir zusammen und ich war mir sicher, dass sie eigentlich mich erwischen wollten. Sie hatten es nur verpatzt, weil er mich in dem Moment zur Seite gestoßen hatte. Ich weiß nicht, warum sie es auf mich abgesehen hatten, aber ich bin mir sicher, dass mich irgendjemand von ganz oben los werden wollte. Warum, weiß ich nicht. Aber nun ist es sowieso zu spät. Als ich mich jedenfalls zu ihnen umdrehte, bemerkte ich, wie derjenige, der zuvor schon geschossen hatte, seinen Finger bereits wieder am Abzug hatte. Ich zögerte keine Sekunde und erschoss alle beide. Die anderen Soldaten hatten von alldem nicht wirklich etwas mitbekommen oder es zumindest geleugnet, sodass sie später aussagten, ich hätte sie ohne Grund erschossen. Ich glaube, sie nahmen mir die ganze Sache wegen Brandon übel und wollten mich leiden sehen.

Bei einer Untersuchung des Falles zwei Wochen später kam heraus, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Ein Zivilist hatte die Szene beobachtet und auch mehrere Einheimische bestätigten, dass sie mehrmals sexuell belästigt wurden.

Da ich jedoch Selbstjustiz verübt hatte und die Sache nicht meinen Vorgesetzten gemeldet habe, wurde ich unehrenhaft entlassen und ging einen Deal ein, bei dem dir wahrscheinlich die Haare zu Berge stehen würden. Vielleicht sollte ich bereuen, was ich getan habe, doch dem ist nicht so. Die Zwei hätten vermutlich nur eine kurze Strafe bekommen und hätten danach so weitergemacht wie bisher. Nein, das konnte ich einfach nicht mit ansehen.

Ich hoffe, du liest noch und bist nicht zu entsetzt von mir. Ich habe weitere Dinge getan, auf die ich nicht gerade stolz bin. Dennoch haben sie mich zu dem Mann gemacht, der ich heute bin. Vielleicht habe mich auch ein paar von meinen Entscheidungen deshalb hier in diese Situation gebracht.

Aber soll ich dir etwas sagen? Ich bin sogar fast dankbar, dass es soweit gekommen ist. Sonst hätte ich dich womöglich nie kennengelernt. Du warst mein Licht, in den letzten Wochen der kompletten Dunkelheit. Das Einzige was ich bereue, ist, dass wir uns nie wirklich kennenlernen konnten.

Du bedeutest mir so viel, dass ich es nicht einmal in Worte fassen kann. Denk immer daran, dass du ein ganz wundervoller Mensch bist, der etwas besseres als mich verdient hat. Verschwende keinen Gedanken mehr an mich, sondern konzentriere dich auf deine Zukunft.

Trauere bitte nicht um mich. Denk immer daran, dass ich es verdient habe. Schließlich habe ich genügend anderen in meiner Sealzeit das Leben nehmen müssen und womöglich sogar Aaron Jones, auch wenn ich daran nach wie vor keinerlei Erinnerung habe.

Du bist das Beste, was mir in den letzten Wochen passiert ist. Danke für alles.

Jason.

Tränen tropfen auf das Papier und verwischen seine krakelige Schrift. Eilig falte ich den Brief wieder zusammen, damit er keinerlei Schaden nimmt. Schluchzer kommen aus mir hervor. Nicht wegen der Tat, die er mir gestanden hat, sondern weil mir bewusst geworden ist, dass ich nach wie vor keine Ahnung habe, wie ich ihn doch noch vor der Hinrichtung bewahren soll.

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