Schnee.
Schnee war das erste was ich wieder wahrnehmen konnte. Die aus Kristallen geformten Flocken schwebten langsam zu Boden. Der Himmel war pechschwarz und mein Atem stieß weiße Wölkchen in die dunkle Nacht hinein. Ich fühlte nichts. Keinen Schmerz, und keine Trauer, so wie ich sie am Anfang verspürt hatte. Millionen von Fragen schwebten durch meinen Kopf, aber in leuchtenden Buchstaben stach das „Warum" am stärksten hervor.
Ich dachte zurück an den Unfall, der irgendwie doch keiner gewesen war und es schien als würde sich ein riesiges Loch unter mir auftun und mich verschlingen. Meine Welt, die ich doch nur mühsam wieder aufgebaut hatte, schien wie ein billiger Porzellanteller auf dem Boden zu zerschellen. Ich spürte wie die Kälte mir in alle Gliedmaßen kroch und doch wüsste ich nicht ob es der Schmerz war, oder die eisigen Temperaturen. Meine Hände begannen unnatürlich zu zittern.
„Nina, was ist los?" Noahs Stimme riss mich aus meiner Starre.
Ich schreckte auf und ließ irritiert meine Augen auf ihm ruhen. Wo kam er plötzlich her? Niemand verirrte sich bei diesem Wetter aufs Dach! Ich hatte verquollene Augen und neben mir häuften sich zerfledderte Taschentücher auf.
„Alles in Ordnung. Was machst du hier?", lenkte ich vom Thema ab. Es war offensichtlich, dass mit mir nichts in Ordnung war. Seit Lady Bentleys Worte meine Wunde erneut aufgerissen hatte, überkam mich wieder diese unfassbare Trauer, derer ich eigentlich hatte überdrüssig werden wollen. Tja und dann kam sie und ich flüchtete aufs Dach, um mir die Seele aus dem Leib zu weinen. Wie lange machte ich das schon? Es kam mir vor wie Wochen. „Hast du die Prüfung verhauen?", erkundigte er sich mitfühlend, doch ich entgegnete verwirrt: „Die ist erst in einer Woche. Bei mir zumindest."
„Hmm", Noah setzte sich neben mich und legte eine Schneeschaufel beiseite. „Was hat jemand wie du mit der Schneeschaufel vor?" Ich zog kritisch eine Augenbraun hoch. Wenn Noah etwas in der Hand hielt würde es früher oder später explodieren, oder etwas beschädigen. Er hatte da so ein Talent. Er deutete überflüssigerweise auf die sehr dünne Schneeschicht vor uns. „Ich muss Nachsitzen und aus irgendeinem Grund soll ich als pädagogische Maßnahme das Dach per Hand freischippen. Als gäbe es da nicht andere Mittel." Ich schniefte, dennoch kämpfte sich ein Lächeln auf mein Gesicht. „Nachsitzen - was auch sonst." Grinsend warf er die Schippe beiseite und stand auf. Er breitete seine Arme schwungvoll aus und eiskalter Wind wehte über das Dach.
„Ich bin dann mal weg", nuschelte ich und packte die Taschentücher in meine Jacke zurück. Noah bemerkte mich schon gar nicht mehr, er war dabei, heftigste Böen über das Dach jagen zu lassen, die den ersten, wenigen Schnee zur Seite peitschen ließen. Ich beeilte mich, zur Türe zu kommen, trat ein und zog sie hinter mir her. Noah war eine Klasse für sich. Was er jetzt schon wieder angestellt hatte wollte ich gar nicht wissen. Aber wenn Noah auf dem Dach war, dann war Fly sicher in seinem Zimmer. Ich hatte genug Trübsal geblasen, genug geweint. Tausende Tränen waren vergossen und gebracht hatte es auch nichts. Es war Zeit, herauszufinden, was mit meinen Eltern geschehen war. Und was auch immer mit diesen Raben los war, sie waren der Schlüssel zu meinem schrecklichstem Moment. Überhaupt musste ich beginnen, das Chaos an Informationen zu ordnen und alle neuen und alten Ereignisse in Verbindung miteinander zu bringen.
Meine Straßenschuhe hinterließen nasse Abdrücke auf dem Teppich, der alle Böden auskleidete und auch nach bestimmt hunderten Jahren noch nicht versaut und ranzig war. Ich folgte den Teppichen bis zu Flys Zimmertüre und klopfte an. Fly hatte ich zum ersten Mal besser in der Bibliothek kennengelernt. Er half mir, mein mit Tee zerstörtes Buch zu retten und erst da fiel mir auf, dass er gar nicht so arrogant war, wie ich immer gedacht hatte. Wie ich blieb er an Wochenenden fast immer hier und irgendwie war die Bücherei sein zweites Schlafzimmer. Ohne Spaß, einmal fand ich ihn mit einer Decke und Kissen in der Abteilung über Erdkräfte wieder. Wenn jemand etwas über die Raben gelesen hatte, dann er. Naja Rick hätte ich natürlich auch fragen können, aber irgendwas zog mich zu Fly. Ich klopfte erneut und endlich hörte ich von innen ein undeutliches „Herein."
DU LIEST GERADE
Die FEA Chroniken
FantasyStell Dir vor, du lebst seit du denken kannst in einem kleinen Vorstadtort, aber auf einmal ist nichts mehr wie es mal war.... Genau so ergeht es der sechzehnjährigen Nina, als ein schreckliches Ereignis ihr Leben für immer verändert. Auf einem abge...