Kapitel 26

421 24 0
                                    

KIARA

Hunter lehnte sich an der Wand hinter sich an, währenddessen ich im Schneidersitz direkt vor ihm sass und ihn aufmerksam anblickte. Was auch immer er mir jetzt erzählen wird, ich werde für ihn da sein. Wir kannten uns nicht lange, aber darum ging es garnicht. Gefühle brauchten nicht eine gewisse Zeit um sich zu entwickeln. Klar sie entstehen nicht von heute auf Morgen, aber es kam nicht darauf an ob man sich ein halbes Jahr kannte oder einige Wochen. Hunter gab mir das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit sowie es bis jetzt nur Reece und Kaden konnten.
"Meine Mutter ist spurlos verschwunden als ich gerade mal zwölf war" begann er mit leiser Stimme. "Von heute auf Morgen war sie plötzlich weg und liess mich mit meinem Vater alleine. Er war schon immer ein sehr trauriger Mensch. Meine Mutter sagte immer es läge an seiner Vergangenheit. Und als meine Mutter verschwand wirkte es so wie der letzte Funken Hoffnung ebenfalls aus seinem Leben verschwunden war." Hunter brach ab und schluckte schwer. Er griff nach einem Kissen und schob es sich hinter den Kopf. "Es war zu viel für ihn. Einen pubertierenden zwölfjährigen großzuziehen und gleichzeitig zu arbeiten. Dazu kommen noch die Schulden die wir hatten. Meine Eltern hatten sich ziemlich übernommen als sie sich als Reiseleiter selbständig gemacht hatten. Das Haus hatten sie auch noch nicht abbezahlt." Ich griff nach seiner zitternden Hand und legte sie in meine. Er blickte eine Weile schweigend auf unsere Hände, bevor er tief Luft holte und er mir mit seiner brüchigen Stimme seine Geschichte weitererzählte.
"Er stellte Leute ein die für ihn die Reisen übernahmen, obwohl er sie kaum bezahlen konnte, nur damit ich nicht alleine Zuhause war. Dann kündigte einer nach dem anderen und er stand wieder alleine da. Er verkaufte das Geschäft zum
Mindestpreis und fing an in einer Werkstatt zu arbeiten. Da war ich etwa vierzehn." Er zog das Kissen wieder hinter seinem Kopf hervor und legte es neben sich aufs Bett.
"Anfangs waren es nur ein zwei Bier, daraus wurden billiger Schnaps oder Wodka. Er begann all unser Geld für Alkohol auszugeben. Die Schulden wurden wieder höher und..." seine Stimme brach und er senkte den Blick. "Er hat mich nie geschlagen. Das hätte er nie aber er hat mich psychisch fertig gemacht. Tagtäglich hatte er mir vorgehalten das wäre alles meine Schuld. Meine eigene Mutter wäre wegen mir abgehauen. Jeden verdammten Tag" presste er zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hob wieder den Blick und ich konnte direkt in seine wässrigen Augen blicken. Dieser Anblick, wie er völlig fertig vor mir sass und mühsam mit seinen Tränen kämpfte, zerriss mir das Herz.
"Komm her" forderte ich ihn auf und breitete meine Arme aus. Er rutschte näher an mich ran und liess sich gegen meine Brust sinken. Zärtlich strich ich ihm durch die Haare als sein Körper von einem lauten Schluchzer erschüttert wurde. Er begann leise von sich her zu weinen währenddessen er in meinen Armen lag.
"Er hat mir das jeden Abend an den Kopf geworfen und am nächsten Morgen hat er so getan als wäre nichts passiert" schluchzte er und schlang seine Arme um meine Taille. Er zog mich auf seinen Schoss und vergrub seinen Kopf in meinen Haaren. Sein warmer Atmen streifte meinen Hals, als er leise schluchzte.
"Jeden verdammten Abend" hauchte er. Seine Stimme zitterte und wirkte schwach. Beruhigend strich ich ihm über den Rücken, denn andern Arm hatte ich schützend um ihn gelegt. Als könnte ich ihn von all den schmerzvollen Erinnerungen von seiner Vergangenheit beschützen. Was irrsinnig war, denn das konnte ich nicht, aber ich würde es tun wenn ich könnte. Ohne zu zögern.
Mühsam hielt ich meine eigenen Tränen zurück. Ihn so leiden zu sehen zerriss mir wirklich das Herz. Ein schwerer Kloss bildete sich in meinem Hals und schnürte mir die Kehle zu. Wenn ich mich schon so fühlte, wie schlimm war das hier gerade für ihn? Alle alten Wunden nochmals aufzureissen.
Sanft löste er sich von mir und wischte eilig seine Tränen von den Wangen.
"Tut mir leid" murmelte er leise. Verdattert blickte ich ihn an.
"Wofür?" Er zuckte mit den Schultern und senkte den Kopf.
"Das du mich so sehen musstest. Wie ein Häufchen Elend."
Energisch schüttelte ich den Kopf.
"Dafür musst du dich sicher nicht entschuldigen."
Er hob den Kopf und blickte mich unsicher an.
"Du musst dich nicht dafür schämen Gefühle zu zeigen. Wieso solltest du auch?" Auffordernd suchte ich seinen Blick, da er seinen Kopf wieder gesenkt hatte um seine wässerigen Augen vor mir zu verbergen.
"Hunter" sprach ich energisch seinen Namen aus. Unsicher hob er wieder den Kopf.
"Ist es dir nicht unangenehm jemanden wie mich weinen zu sehen?"
Wieder schüttelte ich den Kopf.
"Wieso sollte ich?" Er zuckte erneut mit den Schultern.
"Mein Vater hat mir immer eingeredet Männer dürften nicht weinen. Das wäre unmännlich" murmelte er.
Seine Worte versetzten mir erneut einen Stich in mein Herz. Schmerzhaft zog sich meine Brust zusammen. Dass er den Worten seines Vaters noch immer soviel Glauben schenkte, nachdem was passiert war, machte mich wütend und traurig zugleich.
"Glaubst du das wirklich?"
Er nickte.
"Dann vergiss es. Denn es entspricht nicht der Wahrheit" erwiderte ich.
"Es ist menschlich. Jeder Mensch darf weinen und Gefühle zeigen. Ob Mann oder Frau. Egal wie alt. Komplett egal." Wieder griff ich nach seiner Hand und legte sie in meine.
"Du musst niemals Angst davor haben oder dich dafür schämen mir deine Gefühle zu zeigen. Egal ob du zusammen mit mir dämliche Witze reisst oder du deinen Tränen freie Bann lässt, weil dich etwas verletzt oder beschäftigt." Er lächelte mich schwach an und drückte meine Hand. In seinem Blick lag soviel Zärtlichkeit das mein Herz augenblicklich schneller schlug und mir ganz warm wurde.
"Danke" hauchte er.
"Wirklich. Danke für alles" wiederholte er. "Obwohl ich dich angelogen habe, bist du für mich da" flüsterte er. "Das ist doch selbstverständlich. Es war nicht okey aber ich verstehe es. Jemand das zu erzählen braucht Vertrauen dass man zuerst aufbauen muss" erwiderte ich und lächelte ihn aufmunternd an. "Und genau genommen hast du mich nicht angelogen." Ich begann zu grinsen als ich seinen fragenden Blick bemerkte. "Du hast es mir nur verschwiegen."
Und wieder sah er mich so an. So zärtlich und voller Zuwendung. Seine Lippen waren zu einem glücklichen Lächeln verzogen, dass sogar seine Augen erreichte. Instinktiv legte ich meine Hand auf seine Wange und versuchte seinen Blick ebenso zärtlich und voller Zuwendung zu erwidern.
Noch nie hatte ich dieses starke Gefühl einem Jungen gegenüber empfunden. Nichtmal bei meinem ersten Freund. Auch nicht bei meinem zweiten. Bei keinem. Hunter weckte Gefühle in mir von denen ich niemals dachte ich könne sie empfinden schon garnicht so intensiv.

KADEN

Schweigend sassen Reece und ich auf unserer Couch im Gaming- und Kinozimmer. Wir hatten irgendeinen Actionfilm gestartet und seitdem nicht einen Mucks von uns gegeben. Wir sassen bloss da und starrten abwesend auf die Leinwand auf der Autos explodierten oder die Helden unrealistische Stunts vorführten.
Ich unterbrach die Stille indem ich mich räusperte und den Film ausschaltete.
Reece drehte den Kopf zu mir und sah mich fragend an.
"Alles okey?" Er runzelte verwirrt die Stirn bei meiner Frage.
"Wegen dem Streit mit..." ich brach ab, weil ich nicht mehr wusste was sie für mich waren. Auf eine gewisse Art waren sie noch immer meine Eltern, aber etwas in mir sträubte sich dagegen sie wieder Mom und Dad zu nennen. Ihre Lüge schmerzte einfach noch zu sehr.
Unsicher schwieg ich und richtete den Blick auf die nun wieder weisse Leinwand.
"Müde" antwortete er mir schließlich.
"Als Aurelias Tod zur Sprache gekommen ist und wir Kiara alles erzählt haben, hat sich der Tag wieder in meinem Kopf wiederholt." Er hielt inne bevor er sich zu mir drehte und weiterredete. "Diesen Schmerz als ich euch beide da auf dem Boden sah, er war wieder da. Stärker als in den Nächten wo ich von Alpträumen heimgesuchten worden bin." Er verstummte und blickte traurig auf seine Hände hinunter. Die Fernbedienung liess er zwischen seinen beiden Händen hin un her fallen. Von der rechten zur linken und wieder zurück.
"Das schlimmste war garnicht sie da so zu sehen. Weil ich da noch Hoffnung hatte. Erst dann als ich sie in meinen Armen gehalten hatte und gespürt hatte wie jegliches Leben ihren Körper verlassen hatte, das hat mich zerrissen." Ich schluckte schwer ehe ich wieder zu sprechen ansetze.
"Ich wollte es einfach nicht realisieren dass Sie weg war. Einfach so." Meine Sicht verschwamm langsam, doch es war mir egal. Vor meinem Bruder musste ich nie und werde ich mich nie verstellen. Genauso wenig musste er es tun.
"Sie war so ein toller Mensch. Egal was ich für Scheisse gebaut hatte, war sie da um Alejandros strafende Worte mit mir abzufangen. Sie hat mir stundenlang versucht irgendwelche Mathematikformeln beizubringen damit ich nicht durchfiel." Ich seufzte und drehte meinen Kopf zu Reece.
"Weisst du noch als wir uns zu dritt aus versehen im Pool-Haus eingesperrt hatten?" Er lachte leise was mir ebenfalls ein leises Lachen entlockte. "Ich habe eine halbe Panikattacke gekriegt und du hast fluchend auf die Scheibe eingeschlagen" er unterbrach sich selbst wieder mit einem herzhaften Lachen. "Und Sie?" Er blickte grinsend zu mir. "Und Aurelia hat uns beide beruhigt und die Haushälterin angerufen damit sie uns rausholt" beendete ich seine Erzählung. "Sie war die jüngste und ist trotzdem am ruhigsten geblieben. Sie war damals gerade mal sieben geworden." Traurig blickte er mich an. "Sie war schon immer so. Sie hat uns immer aus der Klemme geholfen wenn wir Kopflos durch die Gegend gerannt sind weil wir mal wieder Mist gebaut hatten" erinnerte ich mich. Reece nickte währenddem seine Lippen sich zu einem schwachen Lächeln verzogen.
"Ich vermisse sie so sehr" gab er zu.
"Tue ich auch." Ich beugte mich nach vorne und stützte mich mit meinen Ellenbogen auf meinen Oberschenkeln ab.
"Manchmal stehe ich vor ihrer Zimmertür und traue mich nicht einzutreten aus Angst sie könnte wieder vor mir auf dem Boden liegen." Reece und ich hatten noch nie so offen darüber gesprochen. Er hatte mir nicht von seinen Alpträumen erzählt und ich ihm nicht von meinen Panikattacken. Manchmal stand ich einfach vor ihrer Tür und zitterte wie verrückt. Währenddem die Bilder von dem Tag wieder durch meinen Kopf schossen. Was eigentlich ziemlich traurig war, weil wir früher immer über alles sprechen konnten. Egal ob es um Mädchen ging oder ob wir mal wieder Stress in der Schule hatten. Oder ob wir über belanglose Dinge geredet haben oder verrückte Theorien zum Leben auf dem Mars erstellt haben.
"Ich war kein einziges mal in ihrem Zimmer deswegen." Ich holte zitternd nach Luft.
"Ich war einmal dort. Aber es hat zu sehr wehgetan um ein zweites mal hinein zu gehen."
Wir blickten eine Weile schweigend auf die weisse Leinwand vor uns.
"Das hier habe ich vermisst." Ich drehte meinen Kopf wieder zu Reece und begegnete seinem überraschten Blick. "Mir dir zu reden. Einfach Brüder zu sein" fuhr ich fort. Reece nickte zustimmend. "Ich auch" flüsterte er leise sodass nur ich es hören konnte, auch wenn wir alleine waren.
"Reece?" Ich knetete nervös meine Hände als ich seinen Namen fragend aussprach. "Ja?" Ich setzte mich auf uns drehte mich diesmal mitsamt meinem Oberkörper zu ihm.
"Versprich mir das du mir nie wieder etwas verheimlichst. Du kannst jederzeit mit mir über alles reden. Ich will nicht das du wieder etwas alleine durchstehen musst." Ich atmete tief durch. Er begann wieder zu lächeln.
"Danke." Er beugte sich über die Stuhllehne und zog mich in eine brüderliche Umarmung.
"Dasselbe gilt für dich. Ich bin immer für dich da."
Nach seinen Worten umarmten wir uns einfach schweigend weiterhin. Eine Umarmung und eine Stille die nur Brüder unter sich verstanden. Und um ehrlich zu sein habe ich mich in letzter Zeit nirgendwo so Zuhause gefühlt wie jetzt. Was nicht nur daran lag meinen Bruder zu umarmen. Ich hatte ihn wieder zurück. Aurelias Tod hat uns auf gewisse Art auseinander gerissen die wir nicht hätten zulassen dürfen. Und jetzt nachdem Tag in der Trampolinhalle und unserem Gespräch fühlte es sich an als wäre das was zwischen uns zerbrochen ist, wieder zusammengefügt worden.

New FamilyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt