Aufbruch

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Lyrann schlief in dieser Nacht nur wenig. In der Kammer, die sie mit ihrer Tante Fila teilte, warf sie sich unruhig im Bett hin und her. Thorins Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Sie durfte nicht mitkommen. Nicht nur das, er hatte sie als Bastard bezeichnet. Der Abscheu, der in seinem Gesicht gestanden hatte, war ihr noch deutlich im Gedächtnis. Es schmerzte, an die Verachtung in seiner Stimme zu denken. Wann sah man in ihr mehr als der unerwünschte Nachkomme einer verachtenswerten Verbindung?

Energisch schlug Lyrann die Bettdecke zurück. Leise, um Fila nicht zu wecken, trat sie an den Balkon ihres Zimmers. Sie trat nach draußen und sog die frische Nachtluft ein. Die Wasserfälle um sie herum erfüllten die Luft mit einem leisen Rauschen. Sie hatte dieses Geräusch immer schon als beruhigend empfunden.

Lyranns Blick fiel auf ihr Handgelenk. Dort trug sie das Einzige, was ihr von ihrer Mutter geblieben war. Es war ein geflochtenes Leder Armband. Mit hinein geflochten waren ein paar dunkle Steine, die mit Runen verziert waren. Gandalf hatte ihr erzählt, dass das Armband ihrer Mutter gehört hatte und dass es ein Talisman war, der seinen Träger beschützen sollte. Tirl hatte es ihr mitgegeben, als sie von Gandalf nach Bruchtal gebracht worden war.

Lyrann seufzte und stützte den Kopf in die Hände. Jedes Mal, wenn sie das Armband gesehen hatte, hatte sie sich geschworen, eines Tages die Heimat ihrer Mutter zu sehen. Geschichten über die Zwerge und vor allem das Volk Durins hatten sie immer fasziniert. Sie hatte die Bibliothek Bruchtals durchkämmt, sobald sie lesen konnte. Jeden hatte sie angebettelt, ihr Geschichten von den Zwergen zu erzählen. Elrond, Fila, Gandalf und noch andere hatten ihren Wissensdurst stillen müssen. Eine unbeschreibliche Sehnsucht hatte sie jedes Mal erfüllt, wenn sie an das Volk ihrer Mutter dachte.

Hier in Bruchtal hatte sie sich nie ganz zugehörig gefühlt. Als Kind hatte sie sich oft vorgestellt, Zwergen zu begegnen und mit ihnen fort zu gehen. Fila hatte sie immer gescholten, wenn sie davon erfahren hatte. Bei dem Gedanken an ihre Tante musste Lyrann lächeln. Fila war immer gut zu ihr gewesen. Sie liebte Lyrann wie eine Tochter. Und Lyrann dankte es ihr mit tiefer Zuneigung und Respekt.

Auch Herr Elrond hatte sich immer um sie gekümmert. Er hatte dafür gesorgt, dass sie unterrichtet wurde. Dank ihm kannte sie sich in der Geschichte Mittelerdes aus, konnte in den Sprachen der Elben sprechen, lesen und schreiben und sie hatte reiten und kämpfen gelernt. Da es hier in Bruchtal keine kleinen Pferde gab, hatte er sogar dafür gesorgt, dass ein spezieller Sattel für sie angefertigt wurde. So konnte sie sich besser halten. Doch trotz dieser Hilfe stürzte sie immer noch oft genug.

Die meisten Elben sahen über ihre Abstammung und ihre geringe Größe großzügig hinweg. Sie behandelten sie freundlich, aber nur wenige von ihnen wirklich herzlich. Lyrann fühlte sich immer wie ein Gast.

Am unangenehmsten war ihr ihr Halbbruder Lindir. Er war der Sohn Fenirs, ihres Vaters. Fenirs erste Frau war bei der Geburt ihres Sohnes gestorben. Lindir war schon erwachsen gewesen, als Fenir plötzlich mit einer Zwergin nach Bruchtal kam. Er hatte sich mit seinem Vater zerstritten, als dieser Bruchtal den Rücken kehrte, um mit Tirl zusammen zu sein. Und bis heute hatte er Lyrann immer noch nicht verziehen, dass sein Vater fortgegangen war.

Mit grimmiger Miene richtete sich Lyrann wieder auf. Egal, was dieser Zwerg sagt, ich werde mich nicht davon abhalten lassen, mitzukommen, dachte sie sich entschlossen. Und wenn ich es erzwingen muss.

Rasch ging sie wieder hinein, denn die Sonne würde bald aufgehen. Bis dahin musste sie noch einige Vorbereitungen getroffen haben.

Nur kurze Zeit später schlich Lyrann aus dem Zimmer. Sie warf einen letzten Blick auf ihre schlafende Tante. Es tat ihr Leid, Fila nicht wecken zu können, um ihr zu sagen, was sie vorhatte. Aber Fila würde nicht verstehen. „Tut mir leid, Fila...", flüsterte sie leise, „Aber ich muss wissen, wo ich hin gehöre."

BastardkindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt