Langsame Genesung

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Vorsichtig balancierte Lyrann ein Tablett beladen mit Essen auf einer Hand, während sie mit der anderen Hand die Tür zu Thorins Gemach öffnete. Sie schlüpfte hinein und schloss leise die Tür hinter sich. Ob Thorin noch schlief? Er war eingedöst, kurz bevor sie das Mittagessen holen gegangen war. Mit einem Lächeln nahm sie das Tablett wieder in beide Hände. Da erklang ein lauter Fluch aus dem Schlafzimmer. Erschrocken wirbelte Lyrann herum. Gerade noch so konnte sie verhindern, dass das Geschirr auf dem Tablett herunter fiel.

„Thorin?", rief sie etwas panisch. „Ja....", kam es genervt zurück. Erleichtert durchquerte sie das Vorzimmer und betrat das Schlafzimmer. Der Anblick, der sich ihr bot, entlockte ihr ein Lächeln. Kopfschüttelnd stellte sie das Tablett auf dem kleinen Tisch vorm Kamin ab. Dann wandte sie sich Thorin zu. Der Zwerg saß kreidebleich auf der Bettkante. Er trug ein weißes Hemd und war wohl gerade dabei gewesen, die Hose anzuziehen. Jetzt jedoch stützte er sich schwer zitternd mit beiden Händen ab und schien einem Zusammenbruch nahe. Sie ging auf ihn zu. „Was machst du da? Gandalf sagte doch, dass du noch im Bett bleiben sollst!", schimpfte sie.

Thorin hob den Kopf. „Ich halte es nicht mehr länger im Bett aus....", knurrte er mit zusammen gezogenen Augenbrauen. Lyrann seufzte nachsichtig. „Ich weiß. Aber du bist noch zu schwach! Warte doch wenigstens auf mich, damit ich dir helfen kann. Außerdem wäre es sowieso noch zu früh, um durch den Berg zu laufen, Thorin!", erwiderte sie. Gereizt stieß Thorin die Luft aus. „Ich habe es satt, hier untätig herum zu liegen, während eine Menge Arbeit erledigt werden muss! Ich will nach meinen Neffen sehen! Ich muss Dain und Balin helfen! Und ich habe es satt, mit Bard von meinem Krankenlager aus zu reden!" Wütend steigerte sich Thorin mehr und mehr in seine Tirade hinein.

Lyrann wartete still ab. Sie war längst nicht mehr besorgt, wenn Thorin laut wurde. Wusste sie doch, dass seine Wut sich nicht mehr gegen sie richtete. Vor fünf Tagen war er aus dem Fieber erwacht und seit dem hatte er fest im Bett gelegen. Das strapazierte seine Geduld enorm, denn er war schon von sich aus kein geduldiger Mann. Hin und wieder war ihm erlaubt, aus dem Bett aufzustehen und sich mit Hilfe im Zimmer umher zu bewegen. Doch das strengte ihn sehr an. Täglich empfing er Besuch. Aber er war ganz und gar nicht mit seiner Situation zufrieden. Schließlich verstummte der Zwerg. Mitfühlend sah sie ihn an. Thorin tat ihr Leid. Auch sie würde verzweifeln, wenn sie ans Bett gefesselt war. Jetzt hob er den Blick und sah sie an. Ein resigniertes Lächeln glitt über seine Züge. Seine blauen Augen leuchteten sanft, während er sie betrachtete. „Du hast ja Recht....", murmelte er. Lyrann ließ sich vor ihm auf die Knie sinken und berührte sein Gesicht. Müde lehnte er sich nach vorne und ihre Gesichter berührten einander.

Glücklich schloss Lyrann die Augen. Viel hatte sich in den letzten fünf Tagen verändert. Seit sie neben Thorin aufgewacht war, hatte sich ihr Verhältnis zu dem Zwerg grundlegend verändert. Liebevoll und vertraut gingen sie miteinander um. Lyrann verbrachte fast jede Minute des Tages an Thorins Seite. Auch nachts verließ sie sein Gemach nicht. Anfangs hatte sie sich daran gewöhnen müssen, in seinem Arm zu schlafen. Aber jetzt wollte sie das Gefühl seiner Nähe nicht mehr missen. Und auch Thorin gab ihr zu verstehen, wie sehr er ihre Nähe schätzte. Zum ersten Mal vertraute er ihr offen seine Sorgen an und bat sie um Rat. Doch trotz dieser Nähe zwischen ihnen war da noch eine gewisse Vorsicht und Zerbrechlichkeit in ihrer Beziehung. Es war für sie beide eine neue Situation.

Der Zwerg bewegte sich. Lyrann richtete sich auf. „Komm, ich helfe dir.", sagte sie. Zitternd stellte Thorin sich hin und stützte sich schwer auf Lyrann, die ihm beim Ankleiden half. Dann lief er, den Arm um Lyrann gelegt, zum Kamin, wo sein Essen wartete. Nach wie vor hinkte er stark mit dem rechten Bein. Gandalf bezweifelte, dass dieses Hinken je völlig verschwinden würde. Es würde wohl eine bleibende Wunde sein. Am Tisch angekommen, ließ er sich schwer in den Sessel fallen. Lyrann nahm ihm gegenüber Platz. Schweigend begannen sie zu essen. Sie hatte geräuchertes Fleisch, Gerstensuppe, Brot und etwas elbisches Gemüse mitgebracht.

BastardkindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt