Trainingseinheiten

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Es war mittlerweile Abend geworden und Thorin ließ sie auf einer Hügelkuppe anhalten. Stöhnend setzte sich Bilbo auf den Boden. Erst jetzt merkte er, wie sehr seine Füße schmerzten. Die ganze Zeit über hatten ihn Oris Lektionen abgelenkt. Jetzt, wo er sich nicht mehr mit Khuzdul beschäftigte, stürzten die Schmerzen in seinem Körper auf ihn ein.

Lyrann stand noch neben ihm. Wie sie es schaffte, trotz der langen Märsche noch so mühelos aufrecht zu stehen, war Bilbo ein Rätsel. Fili und Kili sahen zu Bilbo hinüber. Eigentlich hatte er ihnen versprochen, mit ihnen Feuerholz zu sammeln. Er mochte die beiden jungen Zwerge sehr. Sie waren immer freundlich zu ihm und machten Späße, die ihn zum Lachen brachten. Auch schienen sie ihn mittlerweile nicht mehr zu verurteilen, weil er nicht kämpfen konnte.

Bilbo stöhnte und wollte schon aufstehen, als Lyrann sagte: „Bleib sitzen, Bilbo! Ich mach das schon." Sie legte ihre Sachen neben ihm ab. Dann ging sie zu den Brüdern hinüber. Der Hobbit seufzte kurz, dann rappelte er sich hoch. Er würde sich sicher nicht vor der Arbeit drücken. „Wartet!", rief er und lief den dreien hinterher, die bereits den Hügel hinab stiegen.

Einige Zeit lang suchten sie stumm den umgebenden Wald nach Feuerholz ab. Bilbo fluchte innerlich darüber, dass er doch noch mitgekommen war. Er war furchtbar müde, seine Glieder schmerzten und er wollte nichts mehr, als seine Füße auf seinem wunderbaren Schemel am Kamin legen. Doch der ist zu Hause, dachte er traurig bei sich.

Plötzlich hörte er ein Sirren, gefolgt von einem Knacken und einem dumpfen Schlag. Er fuhr herum. Nicht weit von ihm lief Fili zu einem Baum. Davor bückte er sich und hob einen abgebrochenen, trockenen Ast hoch. Bilbo lief zu ihm. „Was hast du gemacht?", fragte er. Fili zuckte grinsend mit den Schultern, „Ich wollte mich nicht mehr bücken. Da hab ich diesen Ast da oben gesehen und einen Stein geworfen... Er war sowieso schon fast abgebrochen."

Kili und Lyrann kamen durch das Unterholz. Beide hatten die Arme voller Äste. „So wie ich gesehen habe, hing der Ast aber sehr weit unten. Das war kein Meisterstück!", neckte Kili seinen Bruder. Er lud seine Äste auf dem Boden ab und deutete zu einem Baum, der ein Stück weiter weg stand, „Ich wette, dass du den Ast dort drüben nicht runter kriegst!"

Bilbo sah zu dem Baum hinüber. Er war bereits halb abgestorben. Auf halber Höhe hing noch ein großer, trockener Ast an ein paar letzten Holzfasern. „Pfff! Kinderspiel..." Fili nahm einen Stein vom Boden auf, zielte kurz und warf ihn. Bilbo verfolgte mit offenem Mund, wie der Stein flog. Aber er verfehlte sein Ziel. Kili lachte auf.

„Na dann mach du doch!", forderte Fili seinen Bruder ungehalten auf. Kili traf den Ast, aber dieser fiel nicht, sondern schwang nur hin und her. „Lasst mich mal versuchen.", sagte Lyrann plötzlich. Mit einem großen, schweren Stein in der Hand trat sie vor. Bilbo und die beiden Zwerge sahen ihr genau zu, wie sie den Stein hob, zielte und warf. Der Stein flog durch die Luft und traf tatsächlich den Ast mit solcher Wucht, dass dieser sich vom Baum löste.

Lyrann grinste zufrieden. Kili verschränkte die Arme. „Gar nicht schlecht, für ein Elbenbalg...", sagte er grinsend. Lyrann sah ihn kurz an, dann ging sie ihren Ast holen. Als sie wieder kam, sagte sie mit dem gleichen ironischen Ton wie Kili zuvor, „Keine Sorge, man hat mir mehr beigebracht, außer Steine zu werfen."

Kili und Fili warfen sich kritische Blicke zu. „Ich denke, das sollten wir mal auf die Probe stellen. Was meinst du, Kili?", meinte Fili. „Nun, etwas Training würde uns beiden gut tun. Vielleicht können wir unserem Elbenbalg ja noch etwas über den Umgang mit dem Schwert beibringen.", grinste Kili.

Bilbo sah zu Lyrann, die mit einem breiten Grinsen im Gesicht sagte, „Die Herausforderung nehme ich gerne an."

Gemeinsam machten sie sich wieder an den Aufstieg. Es dauerte nicht lange, da keuchten und schwitzten alle vier, während sie sich den steilen Hügel hoch kämpften. Nun wurden sie auch noch vom Feuerholz behindert, das sie schleppen mussten. Das erschwerte den Aufstieg zusätzlich.

Als sie oben ankamen, taumelte Bilbo nach Atem ringend zur Feuerstelle, die Bifur schon vorbereitet hatte. Er ließ seinen Holzstapel neben die Feuerstelle fallen. Dann ging er zu seinem Platz und ließ sich zu Boden plumpsen. Von dort aus beobachtete er, wie Lyrann und die beiden Brüder auch ihr Holz abluden und dann zu einem kleinen freien Platz ein paar Schritte entfernt von ihrem Lagerplatz gingen.

Lyrann stellte sich in die Mitte des Platzes und zog ihr Schwert. Bilbo sah, wie Fili seinen Bruder vorwinkte und sich selbst ein Stück zurück zog. Auch Kili zog sein Schwert. Das lasse ich mir nicht entgehen, dachte Bilbo. Mühsam stand er auf und ging zu ihnen hinüber, um besser sehen zu können. Auf dem Weg sah er, wie sich auch andere zu Kili und Lyrann umdrehten, die sich jetzt langsam umkreisten. Thorin beobachtete das Ganze mit zusammen gezogenen Augenbrauen. Er schien nicht erfreut zu sehen, dass seine Neffen mit Lyrann trainierten.

Bilbo nahm auf einem Felsen neben Kili und Lyrann Platz. Plötzlich sprang Kili nach vorne. Lyrann parierte kaum, sie wich mit einer eleganten Bewegung zur Seite aus und fing lässig Kilis Schlag ab. Dann drehte sie sich wieder zu Kili um. Erneut griff Kili an, diesmal hieb er mit einem lauten Klirren gegen Lyranns Schwert, die den Schwung seines Schlages nutzte, um ihrerseits anzugreifen. Aber Kili wehrte ihren Angriff ohne weiteres ab.

Wieder umkreisten die beiden einander abwartend. Mit einem lauten Schrei warf sich Lyrann gegen Kili. Doch der griff ebenfalls an und so musste Lyrann hektisch parieren. Wenig später hatten die beiden sich in einen wilden Kampf verstrickt. Ihre Schwerter klirrten aufeinander und sie wirbelten umeinander herum. Doch sie kamen nicht an der Deckung des anderen vorbei. Lyrann war schnell, aber Kili war eindeutig der Stärkere.

Voller Bewunderung beobachtete Bilbo die beiden weiter. Wie jemand so schnell und gut kämpfen konnte, war ihm ein Rätsel. Er war fast ein wenig neidisch, während er sie beobachtete.

Aus den Augenwinkeln erkannte er, wie ein paar der Gemeinschaft sich neugierig den Kämpfenden näherten. Ori, Nori, Balin, Dwalin, Bifur, Balin und sogar Thorin beobachteten den Kampf mit regem Interesse. Während Ori vor Staunen der Mund halb offen stand, konnte Bilbo in Dwalins Gesicht widerwillige Anerkennung erkennen. Balin lächelte amüsiert über die beiden jungen Leute, die so hitzig miteinander kämpften.

Schließlich wichen die beiden voreinander zurück. Beide waren außer Atem und nickten einander anerkennend zu. „Gar nicht mal so schlecht, wie ich erwartet habe....", stieß Kili hervor und grinste Lyrann zu. Lyrann lächelte und erwiderte, „Vielleicht kannst du ja noch etwas von mir lernen?"

„Jetzt bin ich aber dran!", meldete sich Fili zu Wort und wenig später hatten sich er und Lyrann ebenfalls in ein wildes Gefecht gestürzt. Mittlerweile stand fast die ganze Gemeinschaft um die Kämpfenden herum. Sie tuschelten leise miteinander. Zweifellos bewerteten sie leise die Kampfkünste des neuen Mitglieds ihrer Gruppe.

Doch auch Fili und Lyrann konnten einander nur wenig Schaden zufügen. Als Bilbo wieder zu ihnen sah, standen die beiden direkt voreinander und versuchten sich gegenseitig aus dem Gleichgewicht zu bringen, die Klingen nur wenige Handbreit vor ihren Gesichtern gekreuzt. Da verlor Lyrann plötzlich das Gleichgewicht und fiel mit einem dumpfen Aufprall nach hinten. Sie ließ dabei ihr Schwert fallen. Fili trat mit triumphierendem Grinsen vor sie hin.

„Hahaha! Gar nicht mal so schlecht, Mädchen.", erklang plötzlich Dwalins Stimme. Der bärbeißige Krieger trat nach vorne und hielt ihr die Hand hin. Lyrann ergriff sie nach kurzem Zögern und ließ sich hochziehen. „Du bist schnell, warum nutzt du das nicht mehr? Du versuchst immer wieder deinem Gegner, der stärker ist als du, mit Kraft zu begegnen. So kommst du nicht weit.", fing er an. Dann wandte er sich an Fili. „Und du Fili, jemanden mit roher Gewalt zu besiegen mag vielleicht in einem echten Kampf noch gehen. Aber du kannst es definitiv besser."

Er zog seine Streitaxt. „Kommt her, ihr habt beide noch Übungsbedarf. Auch du Kili!" Kili kam mit genervten Gesichtsausdruck zu ihnen dazu. Bilbo lächelte und wollte es sich gerade auf seinem Felsen etwas bequemer machen, als Kili rief: „Bilbo, komm her! Für dich wäre etwas Übung auch nicht schlecht." Verdattert blickte der Hobbit zu den vieren, die sich jetzt alle zu ihnen umwandten und erwartungsvoll zu ihm blickten. „Ich? Ah... Nein, das geht nicht. Ich bin kein Krieger.", er schüttelte den Kopf. „Eben drum!", rief Lyrann und winkte ihm aufmunternd zu.

Mit einem Seufzen erhob sich der Hobbit und ging zu ihnen hinüber. Er konnte sehen, wie Thorin sich mit leicht resigniertem Gesichtsausdruck abwandte und als einziger der Gemeinschaft zum Lagerplatz zurück kehrte. Dwalin hatte eben erst angefangen, ihm die Grundlagen der Schwerthaltung beizubringen, als Thorins wütende Stimme vom Feuer her herüber klang: „Bifur! Vor lauter Zugucken bemerkst du nicht einmal, dass das Essen anbrennt!"

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