Auf der Türschwelle

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Sie erwachte früh am nächsten Morgen. Man hatte sie getrennt von den anderen Zwergen in einer kleinen, aber bequemen, Kammer untergebracht. Die Herbstsonne schien durch das kleine Fenster und beleuchtete die Kammer mit ihrem schwachen Licht. Lyrann stand auf. Sie glaubte nicht, dass die anderen Zwerge schon wach waren. Zwar hatten sie früh aufstehen wollen, aber die Feier war doch noch lang geworden. Irgendwann hatte Thorin sie alle zu Bett geschickt.

Während Lyrann das rote Kleid anzog, etwas anderes hatte sie ja leider nicht mehr, dachte sie über Thorin nach. Der Zwerg hatte sich merkwürdig verhalten, als er die Feier aufgelöst hatte. Er war verschlossen und abweisend gewesen, als ob er etwas verbergen wollte. Hatte sie vielleicht etwas getan, was ihn gekränkt hatte? Die Halbelbin war sich ziemlich sicher, dass das nicht der Fall war. Ihre Gedanken wanderten zum Vorabend zurück, zu dem Tanz mit Thorin.

Ihr Herz fing an zu pochen, ihr Magen schlingerte. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Mund. Unwillkürlich begann sie, vor sich hin zu summen. Nein, er war bestimmt nicht deswegen gekränkt gewesen. Sie konnte sich nur zu gut an sein Lächeln erinnern. An das Lächeln und an den Blick seiner blauen Augen. Noch nie hatte jemand sie so sanft und zugleich durchdringend angesehen. Warum war sie nur so glücklich? Das passte gar nicht zu ihrer ernsten Mission..... Aber sie konnte es nicht ändern. Während des Tanzes hatte sie alles um sich herum vergessen. Es hatte nur noch Thorin vor ihr gegeben. Hatte sie sich vielleicht....? Nein, das war lachhaft.

Noch immer summend und leise vor sich hin lächelnd verließ sie die Kammer und eilte die Treppenstufen hinab in die Vorhalle des Rathauses. Dort standen bereits einige der Zwerge. Lyranns Blick blieb an Thorin hängen. In dem dunkelroten Mantel sah er wahrhaft wie ein König aus. Allerdings lag ein fast gehetzter Ausdruck in seinen Augen. Mit raschen Schritten eilte Lyrann die letzten Treppen hinab und gesellte sich zu der Gruppe. Besorgt sah sie zu Kili hinüber. Der junge Zwerg hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Das war merkwürdig, denn am Abend vorher hatte er doch viel besser ausgesehen. Neben ihnen öffnete sich eine Tür und Ori, Dori, Nori, Oin und Gloin kamen heraus.

Thorin ließ den Blick über seine Gemeinschaft schweifen, dann nickte er. „Wir brechen jetzt auf. Auf dem Hauptkanal von Seestadt liegt ein Boot für uns. Die Menschen haben Waffen und Ausrüstung hinein gelegt. Kommt, wir haben nicht mehr viel Zeit!", sagte er mit drängender Stimme.

Damit traten sie aus dem Rathaus hinaus. Noch immer lag Schnee draußen, doch es hatte aufgehört zu schneien. Menschen drängten sich auf den schmalen Gassen und Plätzen der Stadt. Sie alle wollten einen Blick auf den sagenhaften Zwergenkönig und seine Gefährten werfen. Vereinzelte Jubelrufe wurden laut, während sich die Zwerge, Lyrann und Bilbo einen Weg durch die Menge bahnten. Schließlich kamen sie an den großen Kanal, der die Stadt in der Mitte teilte. Dort lag ein großes Boot vertäut. Soldaten beluden es gerade mit Vorräten, Waffen und Decken. Auf einem Podest stand eine Gruppe Menschen mit Blasinstrumenten. Als die Zwerge in Sicht kamen, stimmten sie eine fröhliche Marschmusik an. Alles in allem wirkte der Auflauf von Menschen mehr wie ein großes Volksfest.

Die Gruppe erreichte das Boot, gerade als auffiel, dass Bofur fehlte. Doch Thorin sagte nur grimmig: „Dann brechen wir ohne ihn auf. Wir haben keine Zeit zu verlieren!" Nacheinander bestiegen sie das Boot. Vor Lyrann stand Kili, schwer auf Fili gestützt. Sie konnte sehen, wie er zitterte. Als sie ans Boot kamen, hielt Thorin seinen jüngsten Neffen fest. „Du nicht, Kili!", sagte er sanft. Verständnislos blickte Kili seinen Onkel an. Auch Lyrann glaubte, nicht recht gehört zu haben. „Was meinst du damit?", fragte Kili verstört. „Du bleibst hier.", erwiderte Thorin unnachgiebig. „Du bist zu schwach. Wir können es uns nicht leisten, deinetwegen zu langsam zu sein." Ein merkwürdiger Schatten glitt über sein Gesicht. Dann nahm es wieder einen sanfteren Ausdruck an. „Komm nach, wenn du wieder gesund bist!", sagte er freundlich und legte seinem Neffen die Hand auf die Schulter.

BastardkindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt