Ankunft in Seestadt

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Ihre Stimme versagte ihr. Schreien konnte sie nicht mehr. Sie fiel immer tiefer. Die Augen fest zusammen gepresst, stemmte sie ihre Hände gegen das Holz um sie herum. Inständig hoffte Lyrann, dass sie nicht heraus fallen würde. Um sie herum schien die Welt unter zu gehen. Es rauschte und toste so laut, dass sie nichts hörte außer dem Wasserfall. Feucht sprühte Wasser in das Innere ihres Fasses. Ihr Magen schlingerte und ihr Herz raste wie verrückt.

Lyrann konnte spüren, wie ihr Fass sich drehte. Nein!, dachte sie panisch. Langsam kam sie ins Rutschen. Sie riss die Augen auf und erblickte unter sich die Öffnung des Fasses. Und dort, noch immer so weit entfernt, war die Wasseroberfläche. Verzweifelt versuchte sie, ihre Finger ins Holz zu graben. Doch ihre Nägel kratzten über das Holz ohne Halt zu finden. Ohne dass sie es verhindern konnte, rutschte Lyrann aus dem Fass. Endlich fand sie ihre Stimme wieder. Ein lauter, greller Schrei entfuhr ihr, als sie aus dem sicheren Fass heraus stürzte. Panisch rang sie nach Atem. Mit dem Rücken voran stürzte sie abwärts. Instinktiv rollte sie sich zu einer Kugel zusammen.

Plötzlich schlug sie hart auf der Oberfläche auf und tauchte vollständig unter. Erschrocken riss Lyrann den Mund auf und schluckte Wasser. Sie ruderte heftig mit Armen und Beinen. Das Wasser wirbelte sie umher, sodass sie die Orientierung verlor. Irgendwann spürte sie Grund unter den Füßen. Kraftvoll stieß sie sich ab. Nach ein paar Schwimmzügen durchstieß ihr Kopf die schäumende Wasserdecke. Prustend schnappte sie nach Luft. Sie hustete und spuckte Wasser aus.

Dann sah sie sich nach den anderen um. Das Wasser schlug wilde Wellen und eine heftige Strömung trieb Lyrann vorwärts. Um sich herum sah sie die einzelnen Teile der Holzfässer. Da erblickte sie einige Zwergenköpfe vor sich. So gut sie konnte schwamm sie auf die Gruppe zu. Beim Näherkommen erkannte sie Balin, Gloin, Oin und Bofur. „Lyrann!", rief Balin, als sie näher kam. „Geht es dir gut?" Sie nickte und krächzte, da sie schwer Luft bekam, „Ja! Und euch?" Die Zwerge nickten. Gemeinsam ließen sie sich von der Strömung weiter nach unten treiben.

„Dort sind die Anderen!", rief Bofur. Er deutete auf eine Sandbank an der Biegung des Flusses. Dort schleiften sich gerade die restlichen Zwerge an Land. Sie schwammen mühevoll ans Ufer. Endlich ertastete Lyrann Grund unter den Füssen. Sie richtete sich auf und griff nach Gloins Arm neben sich, um dem alten Zwerg zu helfen. Zusammen wateten sie durch das Wasser, das noch immer mit starker Strömung an ihnen zog. Vor ihnen waren schon einige andere an Land. Bilbo lag um Atem ringend im Sand, neben ihm Dwalin, Bifur und Bombur. Ein Stück abseits kniete Fili neben dem liegenden Kili. Von der Seite kamen Dori, Nori und Ori angeschwommen.

Endlich waren sie kurz vor dem Strand. „Lyrann!" Ein Ruf scholl zu ihnen hinüber. Lyrann hob den Kopf. Thorin kam durch das Wasser auf sie zu gewatet. Er sah abgekämpft aus, aber unverletzt. Sie spürte, wie Freude in ihr aufwallte, ihn so zu sehen. Da war der Zwerg auch schon bei ihr und griff nach ihren Schultern. „Geht es dir gut?", fragte er sie drängend. Lyrann nickte schwach, verdutzt aufgrund seiner Sorge um sie. Er stand so nahe bei ihr... Sie ließ sich von ihm an Land helfen und setzte sich auf einen Stein. Nun, an Land, fing sie an, entsetzlich zu frieren. Thorin ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder und sah sie mit forschendem Blick an. „Geht es dir wirklich gut? Hast du Schmerzen?", fragte er erneut. Ihre Augen trafen sich. Bei dem Anblick der hellen, blauen Augen stolperte Lyranns Herz kurz ein wenig. Doch sie fing sich schnell wieder. Sie nickte erneut. „Mir geht es gut, Thorin.", sagte sie. Gerade wollte sie fragen, wie es ihm ging, doch da hob der Zwerg seine Hand. Mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck berührte er ihr wundes Gesicht. Lyrann zuckte zusammen. Die Finger des Zwerges waren unerwartet sanft. Mit angehaltenem Atem sah sie ihn an.

Ein Wimmern ließ sie beide herum fahren. Nicht weit von ihnen lag Kili. Fili kniete immer noch neben ihm. Oin war mittlerweile auch bei ihnen. „Kili!", rief Thorin besorgt. Er sprang auf und lief zu seinen Neffen. Auch Lyrann stand auf und folgte ihm. Doch ihre Gedanken rasten. Was war das eben? Wo seine Hand sie noch berührt hatte, bitzelte ihre Haut. Doch es war nicht das unangenehme Ziehen der Wunde, das sie spürte. Ihr Herz klopfte wild bei dem Gedanken an die Berührung. Als sie bei den beiden jungen Zwergen angekommen war, schüttelte sie kurz den Kopf, um ihn wieder frei zu bekommen.

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