Unerwarteter Besuch

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Der Frühling kam. In der Senke zwischen Erebor und Thal gurgelte der Fluss. Er hatte sich bräunlich verfärbt von dem vielen Schmelzwasser, das er führte. Nur noch die Spitzen der umliegenden Berge waren mit Schnee bedeckt. Ansonsten zeigte sich bereits das erste zarte Grün. Ein lauer Wind wehte und brachte die erste Ahnung von Wärme.

Lyrann stand auf einer Anhöhe und sog den Frühlingsduft ein. Der Wind blies ihr offenes Haar nach hinten, während sie ihren Blick über die Ebene schweifen ließ. Zu ihrer linken thronte der Erebor, rechts lag Thal. Sie konnte Rauchfahnen von dort aufsteigen sehen. Die Geräusche von den Arbeiten zum Wiederaufbau trugen bis an ihre Ohren.

Lyrann seufzte. Vor einigen Wochen wäre sie noch überglücklich über die milde Luft und den geschmolzenen Schnee gewesen. Doch das hatte sich geändert. Seit Wochen begleitete sie die ganze Zeit Traurigkeit und Gleichgültigkeit. Thorin hatte sie fort geschickt.... Diese Erkenntnis hatte sich in den letzten Tagen tief in ihr Herz gegraben.

Die erste Zeit hatte sie sich geweigert, ihr Zimmer zu verlassen. Voller Gram und Verzweiflung hatte sie sich zurück gezogen. Minna hatte sie liebevoll umsorgt. Doch das hatte Lyrann nicht aufheitern können. Auch ihre Freunde hatten sie besucht, zumal Lyrann den gemeinschaftlichen Mahlzeiten fern blieb. Bilbo kam sogar täglich vorbei. Diese kleinen Besuche waren lange die einzigen Lichtblicke gewesen. Ihre Freunde hatten sie abgelenkt und unterhalten. Bombur hatte ihr Kuchen geschickt. Balin hatte sie mit Neuigkeiten versorgt. Die beiden Brüder Fili und Kili hatten ihr Witze erzählt, um sie abzulenken. Jeder einzelne der Zwerge hatte sich bemüht, ihre Laune zu heben. Doch konnte keiner von ihnen bewirken, was Lyrann sich am sehnlichsten wünschte: Thorins Nähe und Liebe.

Lyrann war sich unsicher, wie sie sich verhalten sollte. Im Moment ertrug sie es nicht, ihm nahe zu kommen. Es erinnerte sie zu sehr daran, dass er sie fort geschickt hatte. Sollte sie mit ihm reden? Oder sollte sie fort? Dazu konnte sie sich nicht durchringen. Sie hatte hier schließlich Freunde. Eines wusste sie, wenn sie wieder an seine Seite zurück kehren sollte, dann wollte sie die Versicherung, nie wieder fort geschickt zu werden. Ein weiteres mal würde sie das nicht verkraften.

Doch eine Versöhnung zwischen ihnen schien so fern.... Lyrann sah fast trotzig zum Berg. In den letzten Tagen war ihr stolz wieder zurück gekehrt. Sie hatte beschlossen, dass sie sich nicht länger verstecken würde. Auch ohne Thorin würde sie hier im Berg ihr eigenes Leben führen. Und sie würde zu ihrem gemischten Blut stehen. Vor wenigen Tagen hatte sie Minna einigen Schneiderinnen geschickt. Die zwergischen Kleider blieben nun in der Truhe. Endlich trug sie wieder elbische Kleidung. Sowohl die Schneiderinnen als auch Minna waren darüber nicht glücklich gewesen. Aber sie hatten gehorcht. Zufrieden lächelnd strich Lyrann über die Lederweste, die sie über ihrem Hemd trug. Die Verzierungen hatte sie selbst angebracht. Auch wenn sie nicht übermäßig geschickt mit der Nadel war, hatte es ihr doch abends die Zeit vertrieben. Zu dem Hemd trug sie eine passende Hose, beides in Grün, und hohe Stiefel. Auch Kleider hatte sie sich schneidern lassen, aus Stoffen, die Tauriel ihr gesandt hatte. Es fühlte sich gut an, wieder die leichten, fließenden Gewändern der Elben zu tragen.

Stolz lief Lyrann in ihren neuen Kleidern nun durch den Berg. Jeden, der sie sah, auf ihre Abstammung hinweisend. Auch die regelmäßigen Ausritte ließ sie sich nicht nehmen und sie trainierte wieder regelmäßig mit Dwalin. Aber an die Zukunft wagte sie kaum zu denken. Auch wenn Dwalin scherzhaft gesagt hatte, dass sie im Heer Erebors sicher einen Platz bekäme, wusste sie nicht, wie sie weiter leben wollte.

Mit einem letzten Blick auf die Senke wandte sich Lyrann ab und schritt zu ihrer Fuchsstute. Varda suchte den Boden nach dem ersten zarten Frühlingsgrün ab. Als sie ihre Herrin heran kommen sah, hob sie den Kopf und wieherte leise. Lyrann trat auf sie zu und klopfte sanft ihren Hals. „Komm, Mädchen!", sagte sie leise. Dann schwang sie sich in den Sattel und trieb Varda an.

BastardkindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt