Vorurteile

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Lyrann erstarrte vor Schreck, als sie Thorin durch die Bäume davon spurten sah. „Thorin!" „Thorin! Komm zurück!" Die Zwerge um sie herum riefen nach ihrem Anführer. Aber Thorin hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Hirsch zu erlegen. Sie konnte es einfach nicht glauben. Es war töricht, sich einfach so von der Gruppe zu entfernen. Was war mit Thorin los? Wollte er sicher gehen, dass sie wieder zu essen hatten? Sie konnte es sich durchaus vorstellen, dass der dickköpfige Zwerg es sich in den Kopf gesetzt hatte, diesen Hirsch für sie alle zu erlegen. Lyrann schüttelte fassungslos den Kopf. Wie konnte Thorin nur so waghalsig und unvernünftig sein, wo er doch meist ein besonnener und ruhiger Anführer war?

Lyrann sah, wie Dwalin, Fili und Kili Thorin folgen wollten. „Wartet!", rief sie, bevor die drei auch zwischen den Bäumen verschwanden. Dwalin drehte sich um. „Was ist?", rief er ungeduldig, „Wir müssen hinterher, sonst findet er nie den Weg zurück. Am besten, wir schwärmen alle aus." Lyrann schüttelte den Kopf und trat vor. „Das ist zu gefährlich, Dwalin.", sagte sie. Dwalin zog die Augenbrauen zusammen, zwang sich aber dazu, ihr zuzuhören. „Ihr würdet euch nur verlaufen. Bleibt hier und sucht nach dem Weg. Bitte, vertrau mir!" „Und was ist mit Thorin?", fragte Dwalin ungehalten. „Ich werde ihn suchen gehen. Von uns allen habe ich am ehesten eine Chance, ihn zu finden und ihn zurück bringen zu können.", erwiderte sie. „Sie hat Recht, Dwalin!", warf Fili ein, „Unsere Chancen, Thorin zu finden wären in der Tat nicht groß."

Dwalin gab ein wütendes Grummeln von sich. „Also auf!", rief Fili an die anderen gewandt, „Wir versuchen den Weg zu finden." Er sah zu Lyrann und fragte sie leise: „Schaffst du es, ihn wieder zu finden? Kannst du mit ihm wieder hier her kommen? Wir versuchen, eine Kette zurück zum Weg zu bilden." „Ich hoffe es.", sagte Lyrann nur. Dann drehte sie sich um und eilte in den Wald.

Thorin hatte glücklicherweise eine deutliche Spur hinterlassen. Auf seinem Weg hatte er Zweige umgeknickt und nieder getrampelt. Lyrann konnte die Abdrücke seiner Stiefel im feuchten Boden erkennen. Obwohl es dämmrig war, konnte sie mit ihren elbischen Augen die Fährte noch recht gut sehen. So schnell sie konnte, folgte sie der Spur.

Nach kurzer Zeit konnte sie nur noch schlecht die Zwerge und Bilbo hinter sich hören. Lyrann duckte sich unter einem tief hängenden Zweig hindurch und spurtete weiter. Sie machte sich Sorgen um Thorin. Würde sie ihn wirklich finden? Und würde sie dann auch zurück finden? Es wurde immer finsterer um sie herum. Langsam aber sicher schwand das Licht. War es, weil sie tiefer in den Wald vordrang als je zuvor? Nur noch mit Mühe konnte sie Thorins Stiefelabdrücke sehen. Wie weit war er wohl gerannt?

Sie fühlte, wie Unsicherheit in ihr aufstieg. Da hörte sie plötzlich vor sich ein Geräusch. Jemand lief vor ihr durch den Wald. Sofort rannte sie los, direkt auf das Geräusch zu. Als sie um einen Baum herum lief, sah sie Thorin vor ihr laufen. Den Bogen hielt er nach wie vor im Anschlag. In der Ferne vor ihm konnte sie einen schimmernden, weißen Fleck erkennen. Er hatte es tatsächlich geschafft, den Hirsch bis jetzt zu verfolgen.

Sie lief auf den Zwerg zu. „Thorin!", rief sie. Der Zwerg blieb stehen und drehte sich um. „Lyrann!", rief er verwundert. Dann winkte er sie heran. „Schnell!", sagte er, „Der Hirsch entkommt sonst noch!" Lyrann trat neben ihn und sah zu dem Tier, das kaum noch zu sehen war. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Er ist zu weit weg.", sagte sie schließlich. Thorin wollte schon weiter laufen, da legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. „Lass ihn.", sagte sie leise, „Wir werden ihn nicht mehr fangen."

Der Zwerg drehte sich um und sah sie an. In seinem Gesicht spiegelten sich Wut, Fassungslosigkeit und Enttäuschung. Lyrann wich sofort zurück. Sie befürchtete schon, dass er sie anfahren würde, weil sie ihn zurück hielt. Doch Thorin sagte nichts. Einen Moment lang sah er sie an, dann senkte er den Blick und schien ein wenig zusammen zu sacken. Dann nickte er nur.

BastardkindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt