27. Samstag - Phillip

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Es war irgendwie seltsam, Elias in der Schule zu sehen, aber ihn ignorieren zu müssen. Jedes Mal, wenn ich ihn erblickte, spürte ich ein Ziehen in der Brust.
Doch ich schaffte es durch den Donnerstag und Freitag, ohne ihn.
Aber ich vermisste ihn.
Ich vermisste Elias, obwohl ich ihn sehen konnte.
Obwohl wir erst ein paar Tage zusammen waren.
Ich vermisste seine Stimme. Seine Berührung. Seine Küsse.
Und das Gefühl, das ich bekam, wenn ich bei ihm war.
So warm, so sicher, so geborgen.
Ohne ihn fühlte ich mich dagegen einsam und verloren.

Herrgott nochmal! Wir sind erst seit Montag ein Paar!

Meine Gefühle juckte das nicht.
Und als wir am Freitag Nachmittag zu meiner Oma, Papas Mama, fuhren, war meine Laune im Eimer.
Mein Paps hatte zwei Brüder, einen älteren, Onkel Siggi, und einen jüngeren, Onkel Dani. Beide hatten jeweils einen Sohn, Lukas und Ricki.
Ja, es gab nur Jungs in dieser Familie.
Onkel Siggi war geschieden, also kamen nur er und Lukas, der drei Jahre älter war als ich und bereits Medizin studierte. Onkel Dani kam mit meiner Tante Mehtap, aber ohne meinen zwei Jahre jüngeren Cousin. Er war als Austauschschüler in England und würde erst zu Weihnachten wieder da sein.
Oma machte Kaffee und kredenzte einen selbstgemachten Schokokuchen.
Es war eigentlich ganz nett, alle plauderten gemütlich im Wohnzimmer, verteilt auf der alten, mit Blumen geschmückten Sofagarnitur meiner Oma und mich beachteten sie nicht.
Bis mein Cousin, der mit mir auf dem Zweisitzer saß, plötzlich mich ansprach.
„Und? Was läuft bei dir so? Schon 'ne Freundin gefunden?“ Er guckte neugierig über seinen Kaffee zu mir.
Ich erstarrte. Was sollte ich sagen?
Mein Herz klopfte wild.
Und ich schüttelte, rot werdend, bloß den Kopf.
Lukas verdrehte die Augen.
„Ernsthaft, Phil, du musst endlich Mal etwas aus dir rauskommen, sonst wird das nie was. Willst du als Jungfrau sterben?“
Mein Magen verknotete sich.
Wieder schüttelte ich den Kopf.
„Hast du denn überhaupt mal versucht, mit einem Mädchen zu reden?“
Kein Interesse.
Aber das konnte ich nicht sagen.
Noch ein Kopfschütteln.
„Mein Gott, bist du hoffnungslos!“
Damit erstarb das Gespräch und Lukas wandte sich wieder den anderen zu.
Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.
Ich wusste ja nicht, dass der nächste Tag weitaus unangenehmer werden würde.

Eigentlich verlief die Weihnachtsfeier der Kicker-Jugend immer gleich:
Spieler, Eltern, Trainer und Vereinvertreter trafen sich gegen 11 bei dem Gasthaus ‚Zum Eber‘, es gab eine langweilige Ansprache des Vereinspräsidenten, die jüngsten Mitglieder bekamen Geschenke, Schals und Mützen in den Vereinsfarben, dann gab es Mittagessen, Schweinebraten oder Käsespätzle. Nach dem Essen wurden die besten Mannschaften und Spieler noch geehrt (mit Urkunden und so), dann saß man noch ein bisschen bei Bier und Softgetränken herum, und das war's dann auch schon.
Soweit war das auch in Ordnung. Unsere Mannschaft saß an einer langen Tafel, zusammen mit unsrem zweiten Trainer Kristjan. Unser eigentlicher Trainer Martin saß bei der zweiten Mannschaft, die er betreute, Jungs und Mädels der F-Jugend.
Ich war eingequetscht zwischen Kai und Freddy, uns gegenüber waren Daniel, und unsere Stürmer Mehmet und Taifun.
Nach dem Mittagessen, zu dem sich Freddy, Mehmet und Taifun Bier genehmigten, während ich und Kai bei Cola blieben und Dani Radler trank, nach dem unsere Eltern, die an andere Tische verbannt waren, uns allen gratuliert hatten und Coach Martin uns zu der guten Hinrunde beglückwünscht hatte, redeten alle durcheinander. Ich schwieg, und Kai warf mir ab und zu einen Blick rüber.
Dann wandte sich das Gespräch auf unsere Gegner in diesem Jahr.
„Wisst ihr noch, diese Grumbacher Schwuchteln?“ Freddy.
„Oh ja, das waren Arschficker!“ Mehmet.
„Aber die Wichser auch Fischbach waren erst recht Schwanzlutscher!“ Taifun.
Die drei lachten.
Mir wurde kalt und heiß, mein Magen verdrehte sich.

Atme.

Dani schüttelte den Kopf, Kai guckte mich besorgt an.
„….Schwucken…“
„….die Arschvotze von Schiedsrichter….“
„…Tunte….“
„….schwule Sau….“
Bei jeder dieser Bezeichnungen verdrehten sich meine Eingeweide mehr, mir wurde übel.

Atme!

„….Spermaschlucker….“
„….Kotstecher…“
„….alles Analbohrer!“
Das schlimmste dabei war das Lachen, das in meinen Ohren dröhnte.
Ich bekam Kopfschmerzen davon.

ATME!

Irgendwann schnappte Kai meinen Ellbogen und zog mich vom Tisch weg, unter den fragenden Blicken der anderen.
Mir war schwindelig.
Er schob mich zwischen den Tischen hindurch nach draußen, wo ich erstmal Luft holte und in die Hocke ging.
In meinem Bauch zuckte es, ich war ganz verschwitzt, aber ich zitterte.
Kai stand bei mir, eine Hand auf meiner Schulter.
„Wir müssen nicht mehr reingehen.“
Ich atmete flach, um zu verhindern, dass ich mich übergab.
Nickend gab ich meine Zustimmung.

Das waren meine Freunde.
Aber wenn sie es wüssten, wären sie es dann immer noch?
„Ich sag den anderen, dass dir schlecht geworden ist.“
Was nicht gelogen war.
„Meine Eltern.“ Krächzte ich.
Kai nickte verstehend, dann verschwand er.
Es dauerte nicht lange, da tauchte auch schon meine Mutter auf, mit besorgten Gesichtsausdruck. Als sie mich kauernd und zitternd vorfand, entwich ihr ein kleiner Schrei.
Sie beugte sich zu mir runter, guckte mich an.
„Meine Güte, Schätzchen! Warum hast du nichts gesagt? Wenn es dir so schlecht geht, hätten wir auch zu Hause bleiben können!“
Ich wusste nicht, dass es so übel werden würde.
Während mein Vater mit unseren Jacken und Mamas Mantel aus der Tür trat, half meine Mutter mir auf. Einen Arm auf ihren schmalen Schultern gingen wir zu unserem Auto.
Und in meinem Kopf wiederholten sich die Worte, die ich gehört hatte, in Endlosschleife.

Schwucken, Arschvotze, schwule Sau, Tunte, Spermaschlucker, Kotstecher, Analbohrer.

Es war nicht so, dass ich das alles nicht schon mal gehört hatte. Tatsächlich war das ziemlich normal in der Mannschaft. Aber ich habe dem nie Beachtung geschenkt. Warum auch?
Aber jetzt…
Jetzt erinnerte ich mich an jedes homophobe Schimpfwort, dass ich je gehört hatte.

Homofürst.
Pimmellecker.
Analschlampe.
Hodenschmuser.
Spermarutsche.
Transe.
Strichjunge.
Vereinsmatratze.

Das half nicht dabei, mich zu beruhigen.
Zuhause machte mir meine Mama Tee und steckte mich ins Bett.

Ich lag da, verwirrt, verletzt, verloren.
Und ich sehnte mich nach Elias.
Ich wünschte mir, es wäre nicht so.
Hätte ich mich nicht in irgendein Mädchen verlieben können?
Nein.
Hätte ich nicht, oder?
Mädchen haben mich nie interessiert.
Auch wenn ich lange gebraucht habe, um zu kapieren, warum.

Also griff ich nach meinem Handy und schrieb Elias.
‚Können wir reden?‘
Es dauerte keine Minute, da klingelte mein Smartphone.
„Hej, was ist los?“ hörte ich seine Stimme sagen, als ich ranging.
Meine Fassung zerbrach und ich schluchzte los.
„Phil?! Phillip?! Was ist passiert?!“ Seine Sorge war unüberhörbar.
„Ich kann das nicht!“ presste ich tränenerstickt hervor.
„Was?! Phil, sag mir, was los ist!“ Jetzt klang er panisch. „Bitte, Rede mit mir!“
Ich versuchte, mein Schluchzen zurückzuhalten.
„Die Feier war Scheiße.“ Ich zog meine Nase hoch.
„Warum?“ Allein Elias zu hören half mir, nicht gleich wieder loszuheulen.
„Mir war nicht klar, wie viele Schimpfworte es für….“ Ich musste abbrechen, weil ein weiterer Schluchzer sich seinen Weg Bahn brach.
„Oh.“ Einen Moment war es still. „Aber sie haben nicht über dich geredet, oder?“
„Nein.“ Ich weinte wieder.
„Ich weiß, wie beschissen sich das anfühlt. Ich weiß, wie sehr es wehtut. Aber…“ Ich hörte wie Elias durchatmete. „Also, noch ist Winterpause, das heißt, dass du keinen von denen so schnell Wiedersehen wirst.“
Nun, er hatte Recht.
„Und in der Zeit kannst du überlegen, was du machen willst. Wenn du nicht willst, musst du keinen von denen jemals wiedersehen.“
Meine Nase lief noch, aber die Tränen hatten aufgehört.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Phil? Bist du noch da?“
„Ja. Danke.“ Meine Stimme klang immer noch belegt.
Wieder war es einen Augenblick still.
Dann seufzte Elias:
„Ich wünschte, ich könnte jetzt bei dir sein. Ich vermisse dich.“
Mein Herz fing wieder an Kapriolen zu schlagen.
„Ich vermisse dich auch.“ Meine Antwort kam flüsternd.
„Hej, weißt du was? Montag machen wir uns einen schönen Tag. Nur du und ich. Wir können uns 'n Film reinziehen, Pizza bestellen, knutschen, was immer du willst, hm?“
Unbewusst fing ich an zu Lächeln.
„Klingt gut.“ Ich zog nochmal die Nase hoch.
„Alles klar! Wir haben ein Date!“
Das entlockte mir dann doch ein kurzes Lachen.
„Oh, meine Mam hämmert gegen meine Tür. Muss los. Ich schreib dir später, ja? Mach's gut.“
„Tschau.“
Und mir ging's besser.
War es nicht seltsam, dass ein paar Worte von Elias, dass seine Stimme allein, reichte, damit ich mich besser fühlte? Damit ich aufhörte zu heulen?

Aber was blieb, war das Unbehagen und die Unsicherheit.
Was sollte ich tun?
Konnte ich noch in einer solchen Mannschaft spielen?
Fußball war mein Zuhause.
Konnte ich das aufgeben?
Während meine Mutter immer wieder reinschaute, mir neuen Tee oder Zwieback brachte und sich auch sonst wie eine Glucke verhielt, grübelte ich.
Warum mussten die Jungs solche Arschlöcher sein?
Warum, zur Hölle, musste es ein Problem sein, wenn ich einen Freund hatte?
Warum musste das alles so schwer sein?
Warum hatte es mich treffen müssen?
Warum konnte ich nicht stärker sein?
Oder mutiger?
Nur kurz unterbrach ich mein Brüten, als eine Nachricht von Elias kam.
‚Freu mich schon auf Montag, kanns kaum erwarten, dich wiederzusehen. Schlaf gut❤‘
Mein Innerstes erwärmte sich ein wenig.
‚Ich auch. Gute Nacht❤‘
Für ein paar Minuten war ich ok.
Doch die ganzen unbeantworteten Fragen kamen wieder.

Ich brütete vor mich hin, bis ich einschlief.



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Langsam kommen wir zum Kern der Geschichte...
Wie gefällt's euch bis jetzt?
Und hat wirklich keiner eine Idee für die Titel dieser Kapitel?
Bin immer noch unzufrieden damit.☹

Bye
DaGi

PS: 😲 Ehrlich, ich kann immer noch nicht glauben, dass dieses Buch einen Watty gewonnen hat. Bin ich so gut?!


Elias und PhillipWo Geschichten leben. Entdecke jetzt