Es ist ein Tag wie jeder andere. Ich komme in der Schule und im Klassenzimmer an und setze mich ganz hinten hin. Ich rede nie mit jemandem aus meiner Klasse. Ich habe keine Freunde in der Schule.
Jetzt haben wir Biologie. „Guten Morgen, Herrschaften. Heute untersuchen wir Blutgruppen", kündigt der Lehrer an. Ich springe sofort auf, schnappe mir meine Sachen und gehe. Ich kann kein Blut sehen, mir wird dann ganz schlecht. „Moment mal, Jamie. Wo willst du hin?", ruft mir der Lehrer nach. „Weg von hier, ich kann kein Blut sehen", rufe ich. Ich achte nicht darauf, wohin ich laufe. Ich verfehle eine Stufe und falle die gesamte Treppe hinunter. Unten bleibe ich erstmal liegen. Mir tut meine Wirbelsäule furchtbar weh und mein Arm hat anscheinend auch etwas abbekommen. „Bleib ganz ruhig liegen, ich rufe einen Notarzt", ruft der Lehrer. „Nein, bitte nicht", jammere ich den Tränen nahe. „Das ist der Schock, alles wird gut", sagt der Lehrer und verschwindet. Ich nehme all meinen Mut und meine Kraft zusammen und richte mich auf. Schmerzen. Ich ziehe mich am Geländer hoch und stelle mich, so gut es eben geht, aufrecht hin. Ich versuche zu laufen. Jedoch knicke ich immer wieder weg und falle um. Ich stütze mich an der Wand ab und versuche, so schnell es geht, zu verschwinden. Seit dem Sturz sind schon einige Minuten vergangen und bald wird der Notarzt eintreffen. Ich darf nicht untersucht werden, sonst fliegt vielleicht alles auf. Auf der anderen Seite: dann ist endlich alles vorbei. Aber ich darf es nicht auffliegen lassen, solange ich meine Mutter nicht gefunden habe. Sonst stecken die mich in ein Heim oder sonst wohin. Ich muss meine Mutter einfach finden. Sie nimmt mich vielleicht auf.
Ich höre mehrere Martinshörner. Mist, sie sind gleich da. Ich muss endlich weg. Ich bin nur wenige Meter vorangekommen. „Hey, du da. Bleib stehen", ruft plötzlich jemand. Ich drehe mich erschrocken um und sehe vier Gestalten in grellen Kleidern. Verdammt. Verdammt. Verdammt. Wie um alles in der Welt soll ich mich da jetzt rausreden? „Du bist doch verletzt und kannst überhaupt nicht laufen", sagt eine Frau, die einzige. Die vier Personen kommen näher. Als ich die Frau näher ansehe, erschrecke ich erstmal gründlich. Sie sieht der Frau auf meinem Foto sehr ähnlich, wenn sie es nicht sogar ist. Ich krame das Bild aus der Tasche und vergleiche es. Sie ist es, eindeutig. Ich falle vor Schreck um und lande wieder auf der schmerzenden Wirbelsäule. Ich verziehe das Gesicht vor schmerzen und schreie auf. „Hey, was ist denn los? Was hast du denn da?", fragt die Frau einfühlsam. Ich verstecke das Foto schnell in meiner Tasche. Sie soll nicht wissen, wer vor ihr steht. Oder eher gesagt liegt. Noch nicht. Ich muss mir erst ganz sicher sein. Vielleicht ist sie es ja auch gar nicht und ich mache mir einfach nur zu große Hoffnungen.
Erst wenn ich mir ganz sicher bin, werde ich etwas sagen und preisgeben, wer ich bin und was Sache ist. Vorher hat es für mich keinen Sinn. Das gäbe ein riesiges Chaos.
Die Ärztin kniet sich neben mich und lächelt mir ermutigend zu. „Mein Name ist Engel, ich bin die zuständige Notärztin hier. Wie heißt du denn und was ist passiert?", fragt sie. „Treppe ... runtergefallen ...", stammele ich. Ich bin gerade einfach nicht im Stande, einen ordentlichen Satz zu formulieren. „Okay. Du hast ja offensichtlich sehr starke Schmerzen. Wo genau denn?", fragt sie weiter. Soll ich ihr wirklich sagen, wo ich schmerzen habe? Ich schlucke und seufze. Sie ist so freundlich und hübsch, warum sollte ich ihr da nicht auch vertrauen?
„Rücken und Arm", sage ich leise. „Okay. Jungs, ich brauche einen Zugang und die Trage", weist sie die drei Männer an. „Kein Zugang", sage ich panisch. „Wieso denn nicht? Hast du etwas gegen Nadeln?", fragt die Notärztin weiter. Ich nicke. „Okay. Wir machen das anders. Bitte den Kopf nicht mehr bewegen, wenn du Rückenschmerzen hast. Ich lege dir eine Halskrause an, das kann etwas unangenehm sein, ist aber notwendig um weitere Verletzungen vorzubeugen", sagt sie und hält ein Plastikteil in die Höhe. Ich seufze und nicke. „Bist du auf den Kopf gefallen?", fragt Dr. Engel weiter. „Keine Ahnung", murmele ich. „Ich leuchte dir mal in die Augen", warnt sie mich vor und tut dies dann. „Alles gut. Wo bleibt die Trage?", der letzte Satz geht an ihre Kollegen, die daneben stehen. Mir fällt auf, dass es jetzt einer weniger ist. „Kommt schon. Wie willst du es haben?", fragt der Dritte, der die Trage dabei hat. „Ich nehme den Kopf. Zwei an die Beine, einer stabilisiert das Becken bitte", weist sie an. Die Ärztin zählt von drei runter, dann schwebe ich für Sekunden in der Luft und lande schließlich auf der Trage. Einer der Sanis reicht mir meine Tasche. „Okay, dann bitte in den RTW", sagt Dr. Engel und ich werde weggeschoben. Sie fahren mich in den RTW und schließen die Türen.
„Jetzt nochmal: was hast du da vorhin vor uns versteckt?", fragt sie. Ich seufze. „Das kann ich nicht sagen. Noch nicht", sage ich leise. „Verrätst du uns wenigstens deinen Namen?", fragt ein Sani. „Jamie", murmele ich. Der Rettungswagen setzt sich in Bewegung und ich starre konsequent an die Decke. Nach einigen Minuten hält der RTW an und die Türen öffnen sich. Die Ärztin springt raus und zieht die Trage aus dem Wagen. Man schiebt mich in die Notaufnahme und lagert mich in einem der Behandlungsräume um. „Okay, dann wünsche ich dir gute Besserung. Man sieht sich vielleicht", sagt Dr. Engel. Ich nicke, sogar es geht, und lasse sie gehen. Wahrscheinlich verliere ich sie jetzt wieder, falls es denn meine Mutter ist. Ich schlucke und nehme meinen ganzen Mut zusammen. „Warten Sie", sage ich laut. Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. „Ja?", fragt sie. „Ich ... muss etwas fragen. Ich muss es einfach wissen", stammele ich und krame in meiner Tasche nach diesem Bild. Ich frage sie jetzt. Jetzt oder nie.
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Help me, so I help you
FanfictionJamie ist 16 Jahre alt und lebt mit ihrem Vater in Köln. Die Mutter ist vor einigen Jahren abgehauen. ------------------------- „Dieses Halsband wirst du tragen, sobald du das Haus betrittst. Und wag es bloß nicht, es abzunehmen", brüllt der Vater...