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„Was hast du denn da?", fragt Dr. Engel. „Ein Bild. Von meiner Mutter. Sie ist vor ca. 10 Jahren abgehauen und hat mich bei meinem Vater zurückgelassen. Das einzige was ich noch habe, ist ein Bild. Hier. Sind Sie das?", frage ich und zeige ihr mein Bild. Sie nimmt es und schaut es sich an. Dabei weiten sich ihre Augen. „Ach du heilige ... das darf doch nicht wahr sein", murmelt sie. „Was?", frage ich und bekomme langsam Panik. „Du bist Jamie. Meine ... meine Tochter", sagt sie und hält sich die Hand vor den Mund. Ich nicke. „Oh nein Gott. Unter diesen Umständen müssen wir wohl einiges bereden", sagt sie. Ich nicke beklommen. „Aber erstmal musst du untersucht werden. Ich gebe vorne Bescheid, dass ich das persönlich tun werde", sagt sie und verlässt den Raum. Wahnsinn, ich kann es nicht fassen. Ich habe meine Mutter endlich gefunden.

Eine Minute später kommt sie wieder. „Okay, Jamie. Dann schauen wir mal nach deinem Rücken. Kannst du dich etwas seitlich drehen?", fragt sie. Ich drehe mich zur Seite und sie zieht das Oberteil etwas nach oben. „Oh Gott, da ist ja alles blau, was blau sein kann. Bist du dir sicher, dass das alles vom Sturz ist?", fragt meine Mutter. „Kann sein", murmele ich. Es ist so schön, das Wort „Mutter" sagen oder denken zu können, das habe ich in den letzten 8 Jahren nicht machen können. „Ich taste mal alles ab. Wenn es weh tut, gibst du Bescheid", sagt Dr. Engel. Sie tastet mich vorsichtig am Rücken ab und begutachtet meine Verletzungen. Ich zucke bei fast jeder Berührung zusammen. „Wir machen davon lieber ein CT, sicher ist sicher", sagt sie. „Okay", murmele ich. „Eine Frage habe ich noch an dich: warum wolltest du nicht behandelt werden? Als wir ankamen, warst du ja auf der Flucht und bist nicht weit gekommen", sagt sie. „Ja, das ist so ne Sache. Darüber reden wir am besten später", sage ich. „Hat es was mit den vielen Verletzungen zu tun?", fragt die Ärztin. „Ja, auch. Okay, ich glaube wir müssen dringend reden. Ich halte das einfach nicht mehr aus", platzt es aus mir heraus. „Okay, aber zuerst musst du ins CT. Die warten nicht", sagt sie und schiebt mich zum Aufzug.

Ich werde durch dieses CT gejagt und lande schließlich wieder unten, zusammen mit meiner Mutter. „So, dann wollen wir mal sehen, was der Rücken macht", sagt sie und schaut sich die Bilder an. „Ach du Herrje. Du hast dir zwei Wirbel gebrochen. Das muss operiert werden", sagt sie. „Was?", rufe ich entsetzt. „Ich mache schnell einen Termin. Bin gleich wieder da", sagt meine Mutter und verschwindet.

Kurze Frage an mich selbst: wie soll ich sie denn jetzt eigentlich nennen? Mamma, Mutter? Dr. Engel? Oder wie heißt sie eigentlich mit Vornamen?

Und wie geht es jetzt wohl weiter? Ich will zu meinem Vater bzw. Erzeuger nicht mehr zurück. Ich hasse es dort, ich kann einfach nicht mehr zurück.
Außerdem: wenn er erfährt, dass ich im Krankenhaus war, bekomme ich unendlich viele Strafen usw. Das würde ich wahrscheinlich nicht mehr überleben.

„Okay, in zwei Stunden können wir", sagt Dr. Engel, als sie wieder kommt. „Frage: wie soll ich dich nennen? Hört sich vielleicht doof an, aber ist ernst gemeint", sage ich. „Wie du magst. Und jetzt haben wir Zeit zum reden", sagt sie. Ich nicke und schlucke. „Dann erzähl mir erstmal, warum du einfach so abgehauen bist. Warum hast du mich damals nicht mitgenommen?", frage ich. „Das konnte ich nicht. Dein Vater hat dich damals dabehalten und ich hatte keine Chance, dich mitzunehmen", sagt sie. „Ich habe dich vermisst", sage ich. „Ich dich auch, jede Minute", sagt sie. „Jetzt habe ich mal eine ernst gemeinte Frage: sind die Verletzungen ...", beginnt sie, wir jedoch unterbrochen. Eine Ärztin stürmt herein. „Charlotte, ich brauche deinen Rat ... oh, hallo", sagt die Frau. Sie hat rote Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden sind. „Tabea, das ist meine Tochter. Jamie", sagt meine Mutter. Charlotte heißt sie. Hübscher Name.

„Tochter? Seit wann hast du ne Tochter und warum weiß ich das nicht?", fragt die Frau. „Weil ich sie verloren habe. Wir wurden getrennt", sagt Mama. „Okay, das musst du mir definitiv und absolut nochmal später in aller Ruhe berichten. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob mir schwarz oder rot besser steht", sagt Tabea. „Ähm ... ich glaube schwarz", sagt meine Mutter. „Okay, danke", sagt Tabea und grinst. „Was ist eigentlich mit ihr passiert?", fragt sie und kommt näher. „Dabei waren wir gerade. Du wolltest mir etwas erzählen", sagt Charlotte. „Ja ... schon. Es war ... Moment mal: darf ich bei dir wohnen?", frage ich. Bevor ich alles auffliegen lasse, brauche ich ein neues Zuhause. „Sicher. Aber wenn du schon so fragst, kann ich mir alles denken. Heiko hat dir was angetan, oder?", fragt sie. Ich nicke. „Wer ist Heiko?", fragt Tabea. „Mein Ex-Freund und ihr Vater", seufzt meine Mutter. „Na super. Ich nehme an, häusliche Gewalt bei dir damals?", mutmaßt Tabea. Sie nickt. „Ich kann nicht wieder zurück, der bringt mich um", sage ich panisch. „Musst du auch nicht. Andere Sache: kann ich dir dann endlich einen Zugang legen? Den brauchst du für die Operation", wendet Charlotte ein. Ich seufze und nicke. „Okay, super. Dann suche ich mir mal alles zusammen", sagt Charlotte. „Was für eine Operation?", fragt Tabea neugierig. „Sie ist die Treppe runtergefallen und hat sich zwei Wirbel gebrochen. Muss man leider operativ beheben. Übrigens: ich bin für deine Narkose zuständig", erklärt meine Mutter. Dann legt sie mir den Zugang und gibt mir etwas gegen die Schmerzen.

„Also bist du während der ganzen Operation dabei?", frage ich hoffnungsvoll. Sie nicke und ich atme erleichtert auf. „Ich bin dann mal weg. Gute Besserung", sagt Tabea und verschwindet. „Ist sie immer so nervös?", frage ich. „Ja, meistens schon. Aber auf eine sehr liebe Art und Weise. Ich mag sie sehr sehr gerne. Deshalb wohnen wir ja auch zusammen", sagt meine Mutter. „Du wohnst mit ihr zusammen?", frage ich perplex. „Ja. Es wohnen noch mehr Leute dort. Wir haben zusammen ein Haus und sind mega zufrieden so", berichtet sie. „Okay", sage ich. Na super, dann bin ich also von Ärzten umzingelt und ständig unter ärztlicher Aufsicht.

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