Schmerz

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Dunkelheit. Unendliche Dunkelheit. Jeden Tag verschluckte sie ein bisschen mehr von mir; ein bisschen mehr Kopf, ein bisschen mehr Herz, ein bisschen mehr Welt. Und ich, ich lag auf der kalten Matratze, zusammengerollt, allein, wie ich es in den frühen Tagen meiner Kindheit getan hatte in Nächten, die nicht enden wollten. Meine Glieder zitterten, weil mir die Kraft fehlte, stark zu sein. Ich starrte ins Nichts, ins dunkle Nichts, an Zimmerdecke und Boden und sah doch nur - schwarz: schwarze Haare, schwarze Augen, schwarze Kleidung... Schwarze Erinnerungen überall. Sie umgaben mich und verschlangen mich und spuckten mich wieder aus, beinahe unberührt. Ich wusste nicht, ob ich sie lieben oder hassen, sie willkommen heißen oder verabscheuen sollte. 
Schreien wollte ich, schreien, bis ich nicht mehr könnte. Jedoch versagte mir die eigene Stimme und ich blieb stumm, weinend, verlassen zurück.
Schmerz, warum konnte sie, die Finsternis, nicht auch den Schmerz von meinen Schulter heben, warum konnte sie mir nicht die Luft aus den Lungen saugen, wie sie es bei ihm getan hatte? Bei ihm, bei ihm - der nun nicht mehr da war...
Sei mit mir, dachte, wünschte, brüllte ich in meinem Kopf, in meinen Gedanken, in meinen Träumen, aber ohne Erfolg. Schwarz blieb die Welt, freudlos farblos.
Als sich meine Lippen öffneten, schmeckte ich Salz auf meiner Zunge. Ein Meer der Trauer sammelte sich um mein Bett; aber was waren schon Wellen des Kummers, im Angesicht des Sturms in mir drin? Würde ich ertrinken können, wäre es längst geschehen. Stattdessen driftete ich zwischen Traum und Wirklichkeit durch glanzlose Sphären stiller Verzweiflung.  
"B...Bi...Bitt..e", presste ich zwischen zwei Atemzügen hervor und schluchzte. Erneut. Es gab nur einen Hafen, den ich erreichen wollte und er erschien mir nie ferner, als in jener Einsamkeit.
Sei mit mir.
Sei mit mir.
Sei mit mir.
Stille. Jene Worte waren es, die ich dachte und die für mich so selbstverständlich zu denken waren, wie es selbstverständlich war, zu atmen. Sie waren mein Gebet, mein Mantra, mein Heiligtum. Und mein allerletztes Stück Hoffnung.
"Hoffnung kommt nach der Trauer", hatte ich einmal jemanden sagen hören, das Gesicht und der Ort entfielen meinem überspannten Kopf? "Erst wenn wir um, die die uns lieb waren  getrauert haben, können wir hoffen, auf das was später kommt."
Aber das stimmte nicht. Zumindest dachte ich, dass es nicht stimmt. Hoffnung, das war mein Anker, das war alles was mir geblieben war: Die Hoffnung ihn zurückzuholen, ihn zu sehen, seine Stimme zu hören und seine Hand zu halten, ihm durchs Haar zu streichen und an seiner Schulter zu lehnen und zu wissen, dass es vorüber ist, dass es jetzt besser wird, so viel besser wird.
Hoffnung, die hatte ich auch jetzt, wo ein schwarzer Ozean drohte mich fortzureißen und Licht nur in der Erinnerung existierte. Wahrscheinlich war meine eine falsche Hoffnung, ein verführerischer und dennoch falscher Schein, der eigentlich hoffnungslos war; dabei war die Vorstellung so schön, so schrecklich schön...
Manchmal hasste ich die Stille; diese Leere im Raum, jene Leere in mir. Und während ich hasste, dachte ich wieder an ihn, der so viel in seinem Leben gehasst hatte, der von Hass und Leid zerfressen gewesen war, aber den letztendlich das Glück getötet hatte. Gegangen bevor die Sonne ganz aufgegangen war, gegangen in einem Moment, der genauso Anfang hätte sein können, der unser Anfang hätte sein sollen.
Ich fröstelte und wusste doch, dass es nicht Kälte war, die mich zwang, mich festzuhalten. Vielleicht Herzenskälte, weil in meiner Brust ein Eisberg wuchs, der langsam, ganz langsam auch mein Gemüt betäubte: Betäubung, ach, vermeintlich ein Helfer gegenüber der Schwermut und doch nichts als Illusion.
Meine Arme schlungen sich um meinen Oberkörper, ich presste den Kopf auf die Brust. Aber ganz egal, wie sehr ich mich bemühte - niemand konnte seine starken Arme ersetzen, niemand könnte mich je wieder halten. Nicht einmal ich selbst. Diese Erkenntnis sickerte in mein Bewusstsein und ich konnte, ich wollte sie nicht aufhalten, weil ich wusste, dass die Realität irgendwann käme, um mich zu holen.
Links, neben meinem Daumen befand sich ein Loch, durch das ich meine schlaffen Muskeln spürte und Wärme, ein klein bisschen Wärme. Es war das Loch, dass ich hinterlassen hatte, als er zum ersten Mal starb. Meinetwegen, nur wegen mir allein - auch zum zweiten Mal.
"Ben", sein Name sprudelte plötzlich aus mir heraus, als sei mein Herz eine Quelle so unerschöpflich, wie das Universum selbst. "Ben, Ben, Ben,... ." Ich sprach seinen Namen für jeden Stern am Himmel; brächten sie ihn vielleicht zu mir zurück? Meine Stimme klang rau, ich hatte sie so lang schon nicht mehr benutzt. "Ben."
Nie mehr wollte ich einen anderen Namen sagen. Er durfte niemals vergessen werden.
Warum hatte ich ihn bekämpft, immer nur bekämpft, warum hatten wir nur so wenig Zeit?
Weil du gelogen hast, antwortete der Teil in mir, der noch klar denken konnte, weil ihr beide gelogen habt. Die Knie angezogen, schlang ich meine Arme um sie und vergrub mein Gesicht in dem letzten bisschen Ben, das mir noch blieb. Sein Pullover roch nach Schweiß, Blut, Salz ... und ihm. Was genau es war, wusste ich nicht, ich denke, es hätte mich auch nicht interessiert. Wichtig war, dass diese eine Sache geblieben war- nein, nicht nur eine, da war auch noch eine andere:
"Ich-", flüsterte ich und ein neuer Schwall Tränen brach aus mir heraus, bevor ich noch einmal ansetzte:
"Ich habe dich geliebt. Ich liebe dich." Er mich auch. Er mich auch. Er mich auch. Er liebte mich auch. Er liebte...
Wild dachte ich in die Stille hinein, als hoffte ich immer noch, er antworte mir. Aber je länger ich darauf wartete, desto verschwommener sah ich die Welt um mich herum. Und schließlich, ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, verdunkelte sich alles. Ich schlief ein, nachdem die Wahrheit meiner Kehle entschlüpft war. Die Wahrheit über eine Liebe, welche von Krieg und Moral verboten und doch so unfassbar richtig gewesen war. 

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Ich denke keiner von uns kann verstehen, wie jene Liebe das Glück der zwei Menschen zerstören konnte, die sie teilten. Vielleicht sind einige von euch mittlerweile darüber hinweg, vielleicht nicht. Mir ist es unheimlich schwer gefallen diesen Oneshot zu schreiben, weil ich erstens nicht gern aus Sicht des Ich-Erzählers schreibe, es hier aber irgendwie passend fand und zweitens - hier kommen wir zum emotionaleren Punkt -, weil ich zuerst am Boden zerstört und dann so resigniert war, dass es einige Zeit gedauert hat, bis ich mich wieder irgendwie in die Situation hineindenken konnte. Trauer hat irgendwo eine schöne, in meinen Augen zumindest ziemlich poetische Seite und ist in diesem Fall von der Ambivalenz gezeichnet, sich in Erinnerungen, im Traum verlieren zu wollen, während die Vernunft dazu rät, die Wirklichkeit anzunehmen. Das ist zumindest meine Erfahrung. Ich hoffe euch hat dieser (relativ kurze) Oneshot gefallen; Danke wie immer an jeden von euch fürs Lesen :) 

Reylo-OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt