Ich legte den Pinsel zur Seite. Es wurde immer schlimmer mit meiner rechten Hand. Wenn ich versuchte länger zu zeichnen, zu malen, verkrampften sich meine Finger, meine gesamte Hand. Teilweise spürte ich nicht einmal mehr, ob ich etwas fest hielt. Sie wurde richtig taub, meine rechte Hand.
Seufzend nahm ich die Kopfhörer ab und sah zu Ben. Ich verstand nicht, wie er bei dieser vollkommenen Stille arbeiten konnte. Nur manchmal saß sein älterer Sohn mit im Atelier am Flügel und spielte ein klassisches Stück vor. Er war unglaublich gut. Soweit ich es als nicht musikalischer Mensch beurteilen konnte.
„Lass uns eine Pause machen", meinte der blonde Mann. Seine Haare waren ein einziges Lockenwirrwarr. Ben war ein unglaublich attraktiver Mann in meinen Augen. Er war nicht viel größer als ich und trug meistens große Schlabberpullis und Chino Hosen. Ich hatte ihn noch nie Schuhe tragen sehen, Ben lief immer barfuß. Seine grauen Augen verrieten oft seine Gedanken. Er war ein sehr herzlicher, offener Mensch. Ich mochte ihn wirklich gern.
Im Wohnzimmer packte ich mich auf den gemütlichen Sessel. Dieses Haus war so schnell zu einem Zuhause geworden. Ich hatte mich sofort wohl gefühlt.
„Hier." Ben reichte mir lächelnd einen Kaffee.
„Danke."
Er setzte sich auf die Armlehne des Sessels. „Gib mir deine Hand."
Ich reichte sie ihm. Meine rechte Hand war total verkrampft. Es tat sehr gut, als er anfing sie zu massieren. „Weißt du, als ich klein war, hat mein Vater mir Abends vor dem Radio immer die Hände massiert, weil ich den ganzen Tag gemalt hab und meine Hände auch total verkrampft waren." Schon öfter hatte er von seinem Vater erzählt. Er war vor kurzem verstorben.
„Wie gehts dir?", erkundigte er sich. Mir war klar, worauf er anspielte. Er war so interessiert am Leben anderer, ihm war es wichtig, dass es den Menschen in seinem Umfeld gut ging.
Ich nahm einen Schluck Kaffee und schloss seufzend die Augen. „Ich weiß es nicht..." Es war schwer, alles in Worte zu fassen. „Ich denke fast jede Sekunde an ihn, weißt du? Keine Ahnung, es... es tut nicht mehr so weh. Irgendwie. Aber die Gefühle für ihn sind fast stärker als vorher. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll."
„Ich weiß was du meinst. Bei mir war es ähnlich. Okay, meine ehemalige Frau und ich sind nicht im Guten auseinander gegangen. Wir haben uns heftig gestritten, wir führten sowas wie einen Krieg. Aber ich hab sie trotzdem abgöttisch geliebt. Es waren nicht unsere Gefühle, die nicht funktioniert haben, sondern die Beziehung, die wir geführt haben. Das hab ich im Nachhinein bemerkt. Ich hatte plötzlich Zeit um über alles nachzudenken. Es war, als wären mir meine Gefühle dann erst wieder richtig bewusst geworden. Jedenfalls war es trotz der kaputten Beziehung nicht leicht, sie aus dem Herzen zu lassen. Mein Kopf wusste, dass es die einzig richtige Entscheidung war. Mein Kopf war erleichtert. Aber mein Herz ist ein Stück weit zerbrochen. Ich gebe zu, ein Stückchen meines Herzen wird auch immer fehlen, weil es ihr gehört. Sie hat mein Leben verändert und geprägt. Und dieses Stückchen meines Herzens wird sie immer lieben. Aber als sich dieses Stückchen für sie abgelöst hat, fühlte es sich an, als müsste ich sterben. Ich konnte nicht atmen. Es tat so weh, dass ich oft einfach nur weinen konnte. Mit ihr konnte ich nicht. Aber ohne sie war am Anfang so schwer. Ich hab diesen Menschen wirklich mit ganzer Seele geliebt. Es ist klar, dass man das nicht einfach von einer Sekunde auf die nächste ablegen kann."
Es machte es zwar nicht leichter, zu wissen, dass es anderen ähnlich ging wie mir. Aber es gab mir das Gefühl, nicht allein zu sein. Das Gefühl verstanden zu werden. Es war okay, so zu fühlen.
„Ich frag mich, ob es wirklich richtig war, den Kontakt abzubrechen", gab ich zu.
„Wenn du deinen Kopf fragst, wird er ja sagen. Wenn du dein Herz fragt, schreit es nein."
„Vielleicht hätte es funktioniert mit einer Fernbeziehung?"
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht."
„Ich frag mich, ob es ihm genauso geht. Denkt er auch so viel an mich? Und dann tut es noch mehr weh, wenn ich daran denke, dass er vielleicht nicht an mich denkt."
„Er hat dich auch geliebt."
„Aber ich liebe ihn noch immer. Tut er es auch? Außerdem haben wir nie darüber geredet. Es war nie etwas ausgesprochen. Hat er die Worte auf diesem kleinen Zettel wirklich so gemeint, wie ich sie gemeint habe?" Ich bemerkte gar nicht, dass ich angefangen hatte zu weinen. „Was macht er gerade? Was trägt er für Klamotten? Fährt er immer noch das gleiche Auto? Geht es ihm gut? Denkt er an mich? Fühlt er genauso wie ich? Hat er jemand anderes? Will er mich vergessen? Vermisst er mich auch? Oh Gott, ich vermisse ihn so sehr! Ich vermisse alles an ihm! Jeden Millimeter von ihm. Jede Berührung. Jedes Wort. Jeden Blick. Jede gemeinsame Sekunde."
Ben zog mich in eine liebevolle Umarmung. „Ich weiß, Mika..." Er strich mir durchs Haar. „Lass es raus."
Ich schluchzte, weinte seinen Pullover nass. „Ich vermisse diesen Idioten so sehr...!"
Dieser Kloß in meinem Hals schnürte mir die Luft ab.
DU LIEST GERADE
Ursus [boyxboy]
Romance„Wieso sprichst du ihn nicht einfach an?" „Er will sicher keinen Typen. Schon gar nicht einen, der im Rollstuhl sitzt. Sieh mich doch an." „Gut, dann zeichne ihn halt für den Rest deines Lebens nur in dein Skizzenbuch ohne je ein Wort mit ihm gewech...