-1-

3.8K 165 0
                                    

„Ich versichere ihnen: Es gibt absolut keinen Grund zur Besorgnis" Es war still, nachdem mein Vater diesen Satz ruhig ausgesprochen hatte. Alle Anwesenden, die eben noch wild diskutiert hatten, sahen ihn nun verstummt an, erwarteten, dass er weitersprach, erwarteten Anweisungen, Versprechungen, Sicherheit. Sie vertrauten ihm und ich denke vor allem seine ruhige Art, mit Problemen umzugehen, hatte einen bedeuteten Anteil daran.

„Seit die Städte errichtet wurden, versuchen die Wilden, sie zu betreten und unser privilegiertes Leben an sich zu reißen. Aber das werden sie nicht schaffen, denn ihre mutierten Hirne, die nur noch dazu im Stande sind, schandvolle Taten verrichten, sind bei weitem nicht zu solcher Intelligenz fähig wie unsere. Sie können unsere Tore belagern so viel sie wollen, die Mauern ankratzen oder brüllen, um unsere Frauen und Kinder einzuschüchtern, aber sie werden unsere Stadt nicht betreten. Und auch keine andere..."

Mit Bewunderung sah ich meinem Vater dabei zu, wie er tat, was er immer tat: alles in Ordnung bringen. Ich kannte keinen Menschen, der rationaler war als er. Er konnte jeden seiner Punkte einwandfrei begründen, sodass keiner auch nur im Traum auf die Idee kam zu widersprechen.

Nachdem die Sitzung vorbei war und die Mitglieder des Rates den Raum verlassen hatten, machten mein Vater und ich uns auf den Weg in unsere Wohnung, die im Palast direkt über dem Regierungsaal lag.

Während wir so durch die Flure schlenderten und ich die Kälte bemerkte, die uns umgab, überrannte mich das Bedürfnis, diese zu überwinden. Manchmal kam es mir so vor, als sei mein Vater nur ein Roboter, der zum Debattieren und Regieren gemacht worden war. Er sprach selten, noch seltener mit mir. Ich wusste nicht wieso. Ich konnte aber auch nicht sagen, ob ich das verdient hatte oder nicht. 

Mein Leben lang litt ich an einer Art Demenz. Ich konnte mich nie länger als maximal ein paar Wochen an ein Ereignis erinnern. Ich war also das, was andere mir erzählten, das ich sei. Mein Leben war das, wovon andere mir berichteten. Und bisher hatte es nicht viel Spannung zu bieten gehabt.

Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, las ich ein Buch über mein Leben, um sicherzustellen, dass ich immer einen groben Plan vom Wichtigsten hatte. Ich konnte Angestellte fragen, aber es war doch etwas seltsam, Leute, die dazu da waren, mich zu bedienen, über mein eigenes Leben auszufragen oder? Deshalb stand das in den Regeln, die mein Vater aufgestellt hatte. Sie sollten mir mein Leben erleichtern. Das taten sie auch, aber sie sorgten eben auch dafür, dass es nicht gerade spannend war. 

Ich hatte immer das Gefühl, mir fehlte etwas- ein Teil von mir, aber wem würde es nicht so gehen, wenn er nicht einmal wirklich wusste, wer er war? Eine meiner Regeln war es, dass ich nicht zwanghaft versuchen durfte, mich zu erinnern. Das sei sehr gefährlich für mich. Ich glaubte das, einfach, weil ich nichts anderes hatte, woran ich glauben konnte. Wieso sollte mein Vater mir auch etwas vormachen? Ich bekam von ihm alles, was ich brauchte. Ich vertraute ihm. Eine andere Wahl hatte ich auch gar nicht.

In unserer Wohnung angekommen, aßen mein Vater und ich zu Abend – in Stille. Hier und da war ein Danke von ihm zu hören, wenn die Bediensteten uns etwas zu trinken oder essen servierten, aber sonst passierte nicht viel.

Ich hatte immer noch den Drang, etwas gegen diese Stille zu unternehmen. Es war absurd, dass ich irgendwie Angst davor hatte zu sprechen beginnen. Er war mein Vater. Er war alles, was ich hatte. Also wieso fiel es mir so schwer, ihn anzusprechen?

Ich beendete mein Essen, trank einen Schluck und räusperte mich dann, in der Hoffnung, das würde reichen, um die Aufmerksamkeit meines Vaters auf mich zu ziehen. Was es natürlich nicht tat. Er aß einfach weiter, als sei er alleine hier.

„Vater", versuchte ich es zurückhaltend.

Er sah mich an, ich schluckte. Es war so schwer, seinem Blick standzuhalten. Ich schaffte es nicht und offensichtlich trug das hin- und herspringen meines Blickes dazu bei, dass er meine Nervosität bemerkte.

„Was ist los, mein Junge?"

Ich zuckte mit den Schultern und trug dabei ein unsicheres Lächeln auf den Lippen. „Ich dachte nur, vielleicht könnten wir heute Abend draußen einen Spaziergang unternehmen..."

Sein schweres Seufzen unterbrach mich. „Das würde ich sehr gerne, James, nur leider ist es schon sehr spät und du weiß, wie wichtig eine regelmäßige Schlafroutine für dich ist. Wir können das wann anders nachholen, okay?"

Ich schluckte schwer, nickte, doch das sah er nicht mehr, da er sich bereits wieder seinem Essen zugewendet hatte. Artig wartete ich, bis er fertig war, verabschiedete mich dann ins Bett und ging in mein Zimmer.

Ich war enttäuscht, keine Frage und wie so oft, wurde ich auch wütend. Ich verpasste so viel wegen dieser Krankheit, ich wollte, dass sich etwas änderte. Ich wollte wissen, wer ich war.

MemoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt