-28-

1K 109 5
                                    

Seufzend sah ich auf das Geäst, hinter dem Tony verschwunden war, nachdem er uns erzählt hatte, was an dem Abend passiert war, als Walter mich gefangen nahm. Am Anfang hatte er uns alles noch ziemlich neutral geschildert, doch nachdem er von dem Tod seiner Mutter erzählt hatte und wie sein Vater sie umgebracht hatte, war er bei jedem Satz beinahe zusammengebrochen. Ich hatte wieder meine Hand auf seinen Rücken gelegt, doch er war zusammengezuckt und von mir weggerutscht. Er hatte keinen Trost haben wollen, kein Mitleid. Er war wütend, er schämte sich, doch vor allem bewies das, dass er noch immer Angst hatte. Angst, er selbst zu sein. Der Junge, der beinahe sein ganzes Leben lang misshandelt worden war. Dem auf unendlich vielen verschiedenen Arten weisgemacht worden war, dass er schwach sei, wertlos. Er glaubte das bis heute. Er glaubte und er hatte fünf Jahre lang geglaubt, dass er mich zum Sterben zurückgelassen hatte. Dafür hasste er sich. Das wusste ich, auch ohne, dass er es aussprechen musste.  

Nachdem er fertig erzählt hatte, hatte sich niemand mehr getraut, etwas zu sagen. Er hatte offensichtlich zum ersten und letzten Mal über dieses Ereignis gesprochen. Schließlich war er dann aufgestanden und gegangen. Das war nun schon eine ganze Weile her. Gordon tauschte sich seitdem angeregt mit Moira aus und Victor hatte mich zur Seite genommen, um mit mir über unsere gemeinsame Zeit zu reden.

Er bemerkte, wie mein Blick immer wieder in die Richtung ging, in der Tony verschwunden war, und dann dort haften blieb.

„Hei, keine Sorge, er kommt schon wieder zurück. Er braucht nur etwas Zeit für sich." Victor klopfte mir auf die Schulter und lächelte mich zuversichtlich an. Ich nickte bloß und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, da ich wusste, dass er recht hatte. Tony würde nicht weglaufen. Nicht nochmal. 

„Ich kann also kämpfen"

Victor schien überrascht, da ich zugehört hatte und schmunzelte dann. „Naja, fechten hat nicht wirklich was mit realen Kämpfen zu tun. Wenn du aber möchtest, dann bringe ich es dir bei. Das wäre vielleicht sogar ganz nützlich..."

Ich nickte zustimmend. „Glaubst du, ich konnte die Macht aus dem Baum nicht absorbieren, weil Walter mir die Kräfte gestohlen hat?"

Victor schüttelte umgehend den Kopf. „Auf keinen Fall. Er hat es vielleicht geschafft, sich einen kleinen Teil deiner Magie zu nehmen, doch man sieht ja, was dadurch aus ihm geworden ist. Selbst dieser kleine Teil war so mächtig, dass er davon verrückt geworden ist. Dass deine Magie noch blockiert ist, muss andere Gründe haben"

Sowohl verstehend, als auch zustimmend nickte ich erneut.

Dass ich ihn gebeten hatte, mir kämpfen beizubringen, erwies sich als nützlich, da ich somit ganz gut abgelenkt wurde. Außerdem war es ein super Training für meinen Körper und meine Reflexe. Es machte auch wirklich Spaß, vor allem zu sehen, wie stolz Victor war, weil ich mich echt gut machte. „Du lernst verdammt schnell"

„Vielleicht habe ich ja früher schon mal gekämpft...", schlug ich als Erklärung dafür vor, dass es mir so leichtfiel.

Victor zog kritisch die Augenbrauen hoch. „Deine Mutter hätte das niemals unterstützt und Walter wäre nicht so dumm gewesen, dir zu zeigen, wie du dich wehren kannst"

„Stimmt", meinte ich nachdenklich, ehe ich überprüfend von Victor zu meiner Mutter sah, die nach wie vor mit Gordon in geringem Abstand zu uns saßen und redeten. „Bist du mit meiner Mutter zusammen?"

„Was? Nein!", lachte Victor sofort panisch und kratzte sich dann am Hinterkopf. „Sie hängt noch sehr an deinem Vater..."

Armer Victor. Er konkurrierte mit einem Toten. Da konnte er nicht gewinnen, egal, wie großartig er auch war.

„Außerdem will sie einfach nur ihre Söhne in Sicherheit wissen. Sie hat gar keinen Kopf für Romanzen...", redete Victor weiter. Dabei bemerkte ich seine Enttäuschung deutlich.

„Bestimmt wird alles anders, wenn wir Eddi befreit und etwas gegen Walter unternommen haben" Ich schaute ihn zuversichtlich an und er lächelte dankbar zurück.

Wir übten noch ein bisschen, wie ich mich verteidigen konnte, bis es langsam dunkel wurde und wir zurück zu den anderen gingen.

Erneut sah ich in die Richtung, in der Tony verschwunden war. „Er ist vor etwa einer Stunde zurück gekommen. Da." Meine Mutter nickte zu einem der kleinen Unterschlüpfe, die sie aus dem Geäst und Laub mit Hilfe ihrer Magie gebaut hatte. Wir hatten 5 davon: Für jeden einen. Tony schien sich seinen bereits ausgesucht zu haben und war darin verschwunden.

Ich bedankte mich bei meiner Mutter dafür, dass sie mir das mitgeteilt hatte, und setzte mich schließlich zu ihr, Gordon und Victor um das kleine Feuer herum. Sobald die Sonne verschwunden war, war es tatsächlich sehr schnell sehr kalt geworden. Moira verteilte Decken an uns und wir unterhielten uns noch etwas. Sie erzählte mir einiges von früher. Es war schade, dass ich mich daran nicht mehr erinnern konnte. Es klang nach einer schönen, sorglosen Zeit. Je mehr ich von Eddi hörte, desto dringender wollte ich ihn befreien. Ich wollte ihn kennenlernen. Ich wollte ein guter großer Bruder für ihn sein.

Als es schon sehr spät war, lösten wir die kleine Versammlung auf und gingen ebenfalls in die kleinen Unterschlüpfe aus Pflanzen. Darin war es tatsächlich wärmer oder zumindest windstill. Schlafen konnte ich trotzdem nicht. Ich dachte sehr viel nach und kam dabei immer wieder zurück zu Tony. Ehe ich so richtig begriff, was ich eigentlich vorhatte, fand ich mich neben ihm wieder, nachdem ich mich zu ihm gelegt und ihn mit meiner Decke zugedeckt hatte.

„Was soll das werden?", murmelte er leise, drehte sich zu mir um und sah mich verwirrt an.

„Moira hat uns vorhin Decken gegeben. Du warst nicht da und ich dachte, dir ist vielleicht auch kalt..." Während ich mich erklärte – was mir eher wie eine Rechtfertigung vorkam – wurde ich ziemlich nervös unter seinem musternden Blick.

Schließlich schüttelte er den Kopf. „Du sorgst dich um mich, trotz allem..." Er wirkte ungläubig.

„Nichts davon war deine Schuld", versicherte ich ihm mit gesenkter Stimme und sah ihm dabei eindringlich in die Augen.

„Ich bin für den Tod meiner Mutter verantwortlich. Für deine Gefangennahme. Ich bin einfach weggerannt"

Das war es, wie er diese Situation zusammenfasste. Ich war anderer Meinung.

„Walter hat deine Mutter umgebracht, nicht du..."

Er unterbrach mich. „Aber ich habe es auch nicht verhindert"

„Du warst ein Kind", flüsterte ich und sah ihn ernst an. „Du hättest ohnehin nichts gegen ihn ausrichten können. Keiner nimmt dir übel, was passiert ist. Es ist nicht deine Schuld" Mit dem letzten Satz wiederholte ich mich, das wusste ich, doch ich war bereit, es noch tausend Mal zu sagen, wenn er es dann endlich begriff.

„Ich habe dich zurückgelassen", hauchte er, dabei erneut glasige Augen bekommend.

„Du hast das einzig Richtige getan", widersprach ich erneut, sah ihn überzeugt an. 

Er schüttelte leicht den Kopf und schloss die Augen. Dadurch löste sich die angestaute Flüssigkeit und ihm liefen Tränen über die Wangen.

Nah rutschte ich an ihn heran. Ich legte meine Hand auf seine Wange und strich ihm die Tränen weg. Unsere Körper berührten sich an einigen Stellen und versetzten mir dadurch leichte Stromschläge. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, beinahe so, als würde es jeden Moment rausspringen. Ich versuchte ruhig zu atmen.

Tony schluchzte leise auf und presste sich plötzlich an mich, umarmte mich und hielt sich an mir fest, so als sei ich die Rettung, auf die er seit fünf Jahren gewartet hatte. Ich wusste, dass ich das im Grunde auch war. 

Mit der einen Hand kraulte ich seine Haare, mit der anderen strich ich beruhigend über seinen Rücken, solange, bis er eingeschlafen war. Danach hielt ich ihn einfach nur fest.

MemoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt