Es war kalt. June spürte, wie der eisige Wind über ihre Oberarme peitschte und ihr weißes Nachthemd um ihre Beine wirbeln ließ. Sie schaute sich um, konnte aber kaum etwas in der Dunkelheit erkennen. Ihre nackten Füße ertasteten Steinboden, wie der einer alten Straße. Auch er war kalt und kleine, vom Stein abgeplatzte Steinchen bohrten sich unangenehm in Junes Fußsohlen. Sie drehte sich einmal im Kreis. Wo war sie?
„Hallo?", fragte sie unsicher und machte einen Schritt vorwärts, ihren Blick starr in die Dunkelheit gerichtet. „Hallo? Ist da jemand?" Ihre Stimme hallte dumpf in ihrem Kopf wieder. Ein Geräusch hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Es hörte sich an, als würde sich ihr jemand von hinten nähern und hätte dabei einen der herumliegenden Steine unabsichtlich bei Seite gestoßen. Junes Herz schlug so laut, dass sie glaubte, man würde es noch in hundert Kilometern Entfernung hören können.
Sie fuhr herum, aber hinter ihr war nichts, da war sie sich sicher. Nicht mal der kleinste Umriss war in der Dunkelheit auch nur zu erahnen. Ein weiteres Geräusch, diese Mal, direkt neben ihrem Ohr ließ sie zu Stein erstarren.
Sie fühlte einen Windhauch auf ihrer Haut, doch er war nicht kalt wie der Wind, der ihr unaufhörlich durch die Haare fegte. Nein, er fühlte sich warm an, vertraut.
„June...?" Die Stimme klang vertraut und sanft, auch wenn in ihr etwas Besorgniserregendes mitschwang. Junes Körper spannte sich an. Erneut hörte sie die Stimme. Es schien, als würde sie sie nur in ihrem Kopf wahrnehmen, als gäbe es keinen Körper, der dazugehörte. Keinen Mund, aus dem die Stimme käme. Und doch spürte June diese vertraute Wärme. Sie schluckte, bis sie sich dazu durchringen konnte, der Stimme zu antworten.
„Mama?", hauchte sie, während sie immer noch angestrengt in die Dunkelheit starrte. Bewegte sich da etwas? June kniff die Augen zusammen. Auf einmal wurde sie von einem grellen Licht geblendet. Schützend hob sie eine Hand und schirmte ihr Gesicht ab. Vorsichtig blinzelte sie durch die Lücken zwischen ihren Fingern und beobachtete, wie der Lichtkegel sich zu einer menschlichen Gestalt verformte. Es war die Gestalt einer Frau mit langen schwarzen Haaren, die sich sanft um ihr rundliches Gesicht schmiegten. Sie trug ein langes Kleid mit weißen Stickereien und langen Ärmeln.
Nachdem die Frau vollständig ihre Gestalt angenommen hatte, ließ das Leuchten nach. June ließ die Hand sinken. Vor ihr stand ihre Mutter und lächelte sie an. June musste einige Male blinzeln. Ihre Mutter schien von innen zu leuchten, sodass June jedes Detail in ihrem Gesicht erkennen konnte. Ihre ausdruckstarken Augen, die Art wie sie ihren Mund zu dem liebevollen Lächeln verzog, dass June so liebte. June zitterte und musste sich stark konzentrieren, um nicht auf dem kalten Stein zusammenzusinken. „Mama.", flüsterte sie erneut. Ihre Stimme bebte. Ihre Mutter nickte, kam langsam auf sie zu und griff nach Junes Hand. Eine unnatürliche Wärme durchfuhr ihren Körper und plötzlich verschwand all die Angst, die June bis dorthin gespürt hatte und machte der Trauer platz, die ihr augenblicklich die Tränen in die Augen trieb.
Ihre Mutter wischte ihr die Träne weg, die Junes Wange herunterkullerte. „Ja June, ich bin hier.", sagte sie sanft und schaute ihr tief in die Augen. Tausende Fragen wirbelten in Junes Kopf herum, doch sie war nicht in der Lage auch nur eine einzige davon zu stellen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Mutter legte ihre Hände auf Junes Schultern. „June hör zu.", ihre Stimme war nun ernst und bestimmend, „Nicht alles ist so wie es scheint. Du weißt nicht wem du vertrauen kannst." Sie schaute in Junes glasige Augen. „Was meinst du damit?", fragte June und schluchzte auf. Ihre Augen brannten. „Ich kann es dir nicht sagen." Ihre Mama strich June beruhigend über die Arme. „Es wird alles gut.", flüsterte sie, „Du und Jack, ihr müsst gut auf euch aufpassen. Lasst nicht zu, dass etwas in euren Geist eindringt. Ihr seid stark. Denkt einfach daran, dass nicht alles was ihr seht real ist." June zitterte nun am ganzen Körper. Ein Geräusch hallte in der Dunkelheit wieder, bedrohlich und nichts Gutes vorhersagend. Junes Mutter schaute sich hektisch um. „Ich muss gehen." Abrupt stand sie auf und trat einige Schritte von ihrer Tochter weg. Endlich hatte June ihre Stimme wiedergefunden.
„Nein, Mama geh nicht!", schrie sie. Ihre Tränen flossen ihre Wangen hinunter. Ihre Mutter lächelte ihr zu. Es war ein Lächeln voller Liebe und Besorgnis. „Ich kann nicht June." Junes Mutter trat weiter zurück. Es schien als würde sie sich in der Dunkelheit auflösen. June versuchte nach ihr zu greifen, doch ihre Hand glitt durch den Arm ihrer Mutter hindurch. „Mama! Bitte bleib hier! Wir brauchen dich!" Verzweifelt versuchte June erneut ihre Mutter festzuhalten, doch sie schaffte es nicht. Ihre Beine versagten und sie sank auf dem Boden zusammen, unfähig aufzustehen. Sie konnte nur zusehen, wie ihre Mutter vor ihren Augen verschwand und die Dunkelheit über ihr selbst zusammenschlug. Das Einzige was sie noch hörte, waren die Worte ihrer Mutter, die von weit her zu kommen schienen: „Passt auf euch auf und vertraut dem Licht."
June schreckte auf. Ihre schwarzen Haare klebten an ihrem Gesicht und ihr Nachthemd schmiegte sich von Schweiß durchnässt an ihre Haut. Schwer atmend setzte sie sich auf. „Mama?", ihre Stimme erstickte in einem Schluchzer. June vergrub ihr Gesicht in den Armen. Es war alles nur ein Traum gewesen. In ihrem Herzen fühlte sie die Leere. Es war die gleiche, düstere Leere, wie June sie verspürt hatte, als ihr Vater ihr gesagt hatte, dass ihre Mutter tot war. Damals war June auf dem Boden zusammengebrochen und hatte nur geweint. Sie war wie benebelt gewesen, hatte nichts um sich herum wahrgenommen, Das war vor fünf Jahren gewesen und doch saß der Schmerz zu tief, als dass sie ihn komplett vergessen könnte. Er war immer da, doch seitdem sie ihre Mutter in ihren Träumen sah, hatte er sich verstärkt und jede Nacht wachte sie auf und weinte, bis sie wieder einschlief. Sie vermisste es, zu ihrer Mutter zu gehen, wenn sie einen Albtraum gehabt hatte. Sie hatte ihr versichert, dass alles gut war und dass sie keine Angst zu haben brauchte. Nun war sie nicht mehr da. June wischte sich über die Augen und stand auf. Sie musste jemandem von ihrem Traum erzählen. Sie wollte nicht allein sein.
June hatte schon oft von ihrer Mutter geträumt, aber nie hatte sie mit ihr geredet oder sie berührt. Dieser Traum war anders gewesen, realer. „Nicht alles was du siehst ist real.", murmelte June. Das hatte ihre Mama gesagt.
June schlüpfte in ihre Pantoffeln, durchquerte ihr Zimmer und öffnete nach einem kurzen Tasten, die Tür. Leise schlich sie quer über den Flur zu dem Zimmer ihres Zwillingsbruders Jack. Vor der Tür stoppte sie. Durch das Schlüsselloch schien ein schwaches Licht. Vorsichtig schob sie die Tür auf und fand ihren Bruder aufrecht im Bett sitzend. Er schien sie gar nicht zu bemerken und starrte in die Leere. Das schwache Licht kam von seiner Nachttischlampe, die sein Gesicht in ein warmes Licht hüllte. Langsam ging June auf ihn zu. „Jack?" Ihr Bruder drehte ihr schlagartig den Kopf zu. Auch seine Augen waren glasig. „June...", seine Stimme klang rau. June ging weiter auf sein Bett zu. Jack hob die Decke, damit sie darunter schlüpfen konnte. Sie drehte ihren Kopf zu Jack und schaute ihm in die Augen. „Ich habe von Mama geträumt.", flüsterte sie. Sie sah etwas in seinen Augen flackern. „Sie hat mir gesagt, dass wir nicht wissen können, wem wir vertrauen können und das wir auf einander aufpassen müssen.", fuhr sie fort. Jack nickte, als kenne er die Geschichte bereits. „Wir sollen nichts in unseren Geist reinlassen.", erinnerte sich June und sah Jack weiterhin an. Er hatte sich auf den Rücken gedreht und starrte an die Decke. June zupfte an seinem Bettlacken. „Da war noch was...bevor sie verschwand und ich aufgewacht bin, hat sie gesagt, dass..." Jack unterbrach sie: „Dass wir dem Licht vertrauen sollen?" Er drehte seinen Kopf zu June, die ihn nun entgeistert ansah. „Du hattest denselben Traum..." Er nickte. „Ja, hatte ich." Er schwieg, bis er sich wieder June zuwandte. „June, ich konnte sie berühren.", er war aufgewühlt und das war bei Jack eher ungewöhnlich, dass er dies so nach Außen zeigte. „Es hat sich echt angefühlt und doch so unwirklich, habe ich Recht Jack?", fragte June ruhig und legte ihm eine Hand auf den Arm. Jack nickte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das kann nicht nur ein Traum gewesen sein, Jack! Das glaube ich nicht!"
„Ich weiß nicht was ich glauben soll.", entgegnete Jack traurig, „Mum ist tot und sie wird nicht wiederkommen." June schluckte. Auch wenn sie wusste, dass ihr Bruder Recht hatte, tat die erneute Erkenntnis weh. „Möchtest du hierbleiben?", fragte Jack. June lächelte. Sie erkannte in seinem Blick, dass er nicht wollte, dass sie ging, auch wenn er dies nie zugeben würde. June nickte und kuschelte sich an ihren Bruder. In seiner Nähe fühlte sie sich geborgen und sicher, als könnte man ihr hier nicht wehtun. Jack war immer für sie da. Nach dem Tod ihrer Mutter, als June sich allein gefühlt hatte, oder wenn sie Probleme mit Leuten aus der Schule hatte. Er war immer da und darüber war June sehr froh.
DU LIEST GERADE
Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020
ParanormalGewinner eines Watty Award 2020 im Genre "Paranormales" *abgeschlossen* Der Gendefekt der Familie Clairvoyance: Ein Segen oder eine Last für die Zwillinge Jack und June? Ihre Mutter hat sie vor der Dunkelheit gewarnt und auch vor Jenen, die sie beh...